Der Traum vom Armaturenbrett

Das Bruttoinlandsprodukt lässt sich kaum ersetzen und nur schwer ergänzen

Die Regierungen von Deutschland, England, Frankreich und den USA lassen nach Alternativen und Ergänzungen zum Bruttoinlandsprodukt suchen – doch bislang ohne Erfolg. Dabei mangelt es nicht an Indices, sondern am Konsens welche Faktoren wirklich wichtig sind.

Politiker wollen zufriedene Bürger, weil das ihre Wiederwahlchancen erhöht. Doch um zu wissen, was die Zufriedenheit ihrer Landleute ausmacht, müssen sie sich auf ihr Bauchgefühl verlassen. Die verfügbaren Indikatoren, allen voran das Bruttoinlandsprodukt BIP, taugen wenig wie bereits Robert Kennedy, der Bruder des US Präsidenten festgestellt hat: „Das BIP misst Alles, ausser das, was das Leben lebenswert macht.“ Doch die Suche nach Alternativen oder Ergänzungen zum BIP gestaltet sich schwierig.

Mehr als nur der Tacho: Ein solches Armaturenbrett wäre auch für Politiker von nutzen (Foto: JD Hancock/Flickr)
Mehr als nur der Tacho: Ein solches Armaturenbrett wäre auch für Politiker von nutzen (Foto: JD Hancock/Flickr)

Am nächstliegendsten ist, das BIP zu modifizieren. Diesen Ansatz verfolgen etwa der Genuine Progress Indicator (Indikator des wahren Fortschritts) oder der deutsche Nationale Wohlfahrtsindex NWI [1]. Sie addieren zum BIP den Wert der Hausarbeit und ehrenamtlicher Tätigkeiten hinzu und ziehen vom BIP Kosten für Autounfälle, Alkoholismus und Umweltschäden ab. [2] Am Schluss steht wieder eine einzige Zahl in Euro oder Dollar, wie das BIP. Doch dieses Vorgehen ist umstritten: So werden die Erfinder des NWI dafür kritisiert, sie hätten eine “autoritäre Variante der Statistik” vorgelegt und „diktierten Wertvorstellungen“. [3] Das Problem: Welche Schäden soll man vom BIP abziehen und wie soll man diese bewerten? So berücksichtigt der NWI etwa Kosten von Lärm, obwohl: „Eine Gesamtkostenschätzung für Lärm existiert nicht.“

Dieses Problem haben die Erfinder des Human Development Index HDI (Index der menschlichen Entwicklung), der anerkanntesten BIP Alternative, geschickt umgangen. „Lass uns einen Index entwickeln, der so vulgär ist wie das BIP aber relevanter für unser Leben.“ Mit dieser Aufforderung gewann Mahbub ul Haq seinen Kollegen Amartya Sen für die Entwicklung des HDI. [4] Das Resultat: Neben der Wirtschaftsleistung werden zusätzlich die  Lebenserwartung und das Bildungsniveau berücksichtigt – und schon liegt nicht mehr das Emirat Katar auf Platz eins wie beim Pro-Kopf-BIP (IMF, PPP, 2011) sondern Norwegen (2011). In eine ähnliche Richtung geht der Better Life Index der OECD, der allerdings 11 verschiedene Faktoren, etwa Freizeit und die Wohnsituation mitberücksichtigt. Der Clou bei diesem Index: In einer Internetapplikation kann jeder die Gewichtung der Faktoren selbst vornehmen (siehe www.oecdbetterlifeindex.org). Der Nachteil: Ohne eine standardisierte Gewichtung kann der Index beliebig von Politikern manipuliert werden.

Doch das BIP und die oben erwähnten Alternativen haben ein weiteres Problem: Sie zeigen nicht an, ob ein Land nachhaltig wirtschaftet. So hat Katar im Moment zwar ein hohes Pro-Kopf-BIP, gleichzeitig nimmt aber der Vorrat an Öl und Gas ab. Um abschätzen zu können, ob ein Land auch in Zukunft floriert, bedarf es daher einer Analyse des Kapitalstocks. Diese liefert der Inclusive Wealth Index IWI (Umfassender Vermögensindex) der UN Universität. [5] Der IWI berücksichtigt dabei drei Arten von Vermögen: Humanvermögen (Menschen, Bildung, Lohnniveau), Anlagevermögen (Infrastruktur, Maschinen etc.) und Naturvermögen (Bodenschätze, Wälder etc.). Betrachtet man hier die Veränderung des Pro-Kopf Vermögens sieht man, dass Chinesen und Deutsche besonders nachhaltig haushalten (Platz 1 und 2) während Nigerianer, Saudi Araber, Venezuelaner und Russen immer ärmer werden. Letztere leben von der Substanz und werden das auf Dauer nicht durchhalten können.

Doch auch der IWI hat ein Problem: Indem er das Naturkapital eines Landes in Dollar berechnet, gaukelt er die Möglichkeit vor, man könne die Umwelt beliebig ausbeuten und schädigen, wenn man nur genug in Bildung und Infrastruktur investiert. Das mag bei Bodenschätzen zutreffen, ist aber bei der Artenvielfalt oder dem Klimawandel eine gefährliche Strategie. Ist eine Tierart einmal ausgerottet lässt sie sich nicht einfach durch ein paar Autobahnkilometer ersetzen. Hinzu kommt, dass in natürlichen Kreisläufen wie dem Klimasystem Kipppunkte existieren. Erreicht man einen dieser Kipppunkte steigen die Kosten nicht mehr linear, sondern explosionsartig. Diese Belastbarkeitsgrenze der Umwelt versucht der Ökologische Fussabdruck aufzuzeigen. [6] Er gibt an welche Fläche erforderlich ist, um den Naturverbrauch eines Landes oder der gesamten Menschheit auszugleichen. Und hier zeigt sich, dass die Menschheit das Naturkapital ihres Planeten aufzehrt: Mittlerweile bräuchte die Menschheit anderthalb Erden, um ihren jetzigen Lebenswandel aufrecht erhalten zu können.

Sobald man nach Alternativen und Ergänzungen zum BIP sucht, sieht man sich einem Dschungel aus Indices gegenüber, die alle ihre Berechtigung haben. Joseph Stiglitz, Mitglied einer Expertengruppe, die für den damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy Alternativen zum BIP entwickeln sollte, meint dazu: „Wir kamen schnell zum Schluss, dass es nicht eine neue Zahl geben würde, die das BIP ersetzt. Aber wir stimmten überein: Es wäre nett gewesen.“ [4] Und so entwickelte die Stiglitz-Sen-Fitoussi Kommission das Bildnis vom Auto. Derzeit hat das Armaturenbrett dieses Autos nur eine einzige Anzeige: den Tachometer. Er zeigt das BIP an, also das Mass an wirtschaftlicher Aktivität. Was man aber will, ist ein Armaturenbrett, das alle wichtigen Informationen anzeigt. Das Problem ist nun zu entscheiden, welche sechs, sieben zusätzlichen Anzeigen in das Armaturenbrett integriert werden sollen. Doch dies ist auch der Stiglitz Kommission nicht gelungen. Und so müssen sich Politiker bei der Frage, was das Leben lebenswert macht, weiter auf ihr Bauchgefühl verlassen. Ob sie damit richtig liegen, entscheidet dann der Wähler. mic

Lesen Sie mehr über das BIP hier: Eine Zahl, sie zu knechten

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[1] Hans Diefenbacher, Roland Zieschank, 2008: Wohlfahrtsmessung in Deutschland (pdf)

[2] Genau genommen gehen der Genuine Progress Indicator und der Nationale Wohlfahrtsindex nicht vom BIP sondern vom privaten Konsum aus.

[3] Spiegel Online, 02.04.2012: Neue Zahlen braucht das Land

[4] The New York Times, 13.05.2010: The Rise and Fall of the G.D.P.

[5] UN University, 2012: The Inclusive Wealth Report 2012

[6] Global Footprint Network