Eine Zahl, sie zu knechten

Das Bruttoinlandsprodukt ist eine der folgenreichsten Erfindungen der Geschichte, denn es steuert das Verhalten der Politik

Ein Pilot, der nur seine Geschwindigkeit nicht aber seine Flughöhe kennt, lebt gefährlich. Doch genau in dieser Situation befinden sich Politiker: Abgesehen vom Bruttoinlandsprodukt stehen ihnen keine allgemein anerkannten Indikatoren zur Verfügung.

„Die Wohlfahrt einer Nation kann kaum von einer Messung des nationalen Einkommens abgeleitet werden.“ Simon Kuznets (1901 – 1985), Erfinder des Bruttoinlandsprodukts

Simon Kuznets
Simon Kuznets (Bild: Wikipedia)

Die USA waren im Griff der Weltwirtschaftskrise. Die Kurse an der Wall Street waren kollabiert und es herrschte Massenarbeitslosigkeit. Doch niemand wusste, was eigentlich passierte und wie schlimm die Krise war. Es gab schlicht keine Daten über den Zustand der Wirtschaft. Erst im Jahr 1934 vermochte der Ökonom Simon Kuznets diese Lücke zu schliessen: Er erfand das Bruttoinlandsprodukt BIP. Dieses fasst alle wirtschaftlichen Transaktionen in einer einzigen Zahl zusammen. Dank dieser Einfachheit verbreitete sich das BIP schnell rund um die Erde und gilt mittlerweile als eine der folgenreichsten Erfindungen der Geschichte. Denn das BIP ist immer noch der wichtigste Indikator an dem sich die Politik ausrichtet und dabei machen die Politiker genau den Fehler, vor dem Kuznets gewarnt hat: sie setzen das BIP mit der Wohlfahrt der Nation gleich.

Das BIP misst die wirtschaftliche Aktivität in einem Land. Es kann auf zwei Arten berechnet werden, über die Einkommen (Löhne und Kapitalerträge) oder die Ausgaben. Im zweiten Fall werden der private Konsum, Investitionen, Staatsausgaben und Nettoexporte aufaddiert. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass unentgeltliche Arbeit etwa im Haushalt, bei der Kindererziehung oder in Vereinen nicht erfasst wird. Aussen vor bleiben auch Schwarzarbeit oder etwa der Drogenhandel. Doch warum lässt sich nicht aus dem Mass der wirtschaftlichen Aktivität auf die nationale Wohlfahrt oder die Lebensqualität der Bürger schliessen? Dafür gibt es drei Gründe: Das BIP sagt nichts über die Qualität der Ausgaben, die Einkommensverteilung sowie die Veränderung des Kapitalstocks aus.

  • Qualität der Ausgaben
    Autounfälle erhöhen das BIP, da die Kosten für den Abschleppdienst, die Reparaturen und die medizinische Versorgung der Verletzten ins BIP einfliessen, während der entstandene Schaden nirgends festgehalten wird. Ähnlich ist es mit der Luftverschmutzung: Wenn mehr Kinder wegen Asthma behandelt werden müssen, ist das ein Gewinn fürs BIP aber ein Verlust an Lebensqualität der Betroffenen.
  • Einkommensverteilung
    Wenn die Wohlfahrt zweier Länder verglichen wird, greift man meist auf das Pro-Kopf-BIP zurück. Dies ist in zweierlei Hinsicht gefährlich: Zum einen sagt das BIP nichts über die Einkommensverteilung aus. Im Extremfall steigt das BIP während der Durchschnittslohn sinkt, weil ein grösserer Teil der Wirtschaftsleistung an die Kapitaleigner geht. Und zum anderen sagt das BIP nichts über die Arbeitsdauer aus: So lässt sich das hohe Pro-Kopf-BIP in den USA zum Teil damit erklären, dass Amerikaner nur zwei Wochen Ferien pro Jahr haben.
  • Veränderung des Kapitalstocks
    Holzt man einen Schutzwald ab und verkauft das Holz steigt das BIP. Der Verlust an Wald und die erhöhte Bergrutschgefahr werden hingegen nicht berücksichtigt. Ähnlich ist es mit Schulden: Leiht sich ein Land im Ausland Geld, steigt das BIP egal ob das geliehene Geld für Investitionen oder Konsum ausgegeben wird. Dass letzteres auf Dauer nicht tragfähig ist, lässt sich aber am BIP nicht ablesen.

Das BIP lässt sich also am ehesten mit dem Umsatz eines Unternehmens vergleichen. Doch wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz festgestellt hat, reicht das nicht um die Qualität des Managements zu beurteilen: „Niemand würde nur auf den Umsatz eines Unternehmens schauen, um zu sehen wie erfolgreich es war. Viel wichtiger ist die Bilanz, die Guthaben und Schulden ausweist. Dies gilt auch für Länder.“ Das Problem: Das BIP ist relativ einfach zu messen und frei von Werturteilen während die meisten anderen Indikatoren schwer zu messen sind und oftmals auf Werturteilen beruhen (siehe nebenstehender Artikel). Und so ist das BIP auch knapp 80 Jahre nach seiner Erfindung noch immer das Mass aller Dinge. mic

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