Viele Firmen halten sich auch ausserhalb der EU an deren Regeln
Oft wird beklagt, die EU sei überreguliert und dies sei ein Wettbewerbsnachteil. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Weil die EU striktere Vorschriften hat als andere, werden diese Regeln dann zum globalen Standard.
„Im Gegensatz zu anderen grossen Volkswirtschaften kann die EU unilateral globale Standards setzen“ schreibt die Rechtsprofessorin Anu Bradford von der US-Universität Columbia. Der Grund dafür sei der “Brüssel-Effekt”. [1] Dieser Effekt ist schnell erklärt: Weil es für multinationale Konzerne zu teuer oder zu kompliziert ist, Produkte nach unterschiedlichen Standards herzustellen, halten sie sich einfach an den striktesten und das ist meist der EU-Standard. Denn auf den EU-Markt kann kein Grosskonzern verzichten. Dieser ist zwar etwas kleiner als der US-Markt, dafür ist die EU Export- und Importweltmeister für Waren und Dienstleistungen. EU-Standards gehören daher auch in den USA zum Alltag: „Wenigen Amerikanern ist bewusst, dass EU-Vorschriften über die Kosmetika bestimmen, die sie benutzen, über das Müsli, das sie zum Frühstück essen und über ihre Facebook-Einstellungen zum Schutz der Privatsphäre. Und all das vor neun Uhr morgens“, so Bradford. [1]
Das Privileg der Welt unilateral Regeln setzen zu können, verdankt die EU einer Kombination von drei Elementen: der Grösse des EU-Markts, der Kompetenz ihrer Regulierungsbehören und der Präferenz der EU-Bürger für strikte Regeln. Während in den USA Angst vor Überregulierung herrscht, bestimmt in Europa eher die Angst vor Unterregulierung die Normsetzung. Das Paradebeispiel sind hier Chemikalien: Im Jahr 2007 beschloss die EU, dass für alle chemischen Stoffe, die in der EU verkauft werden, ein Unbedenklichkeitsnachweis vorliegen muss (REACH Verordnung). Der Aufschrei in der Industrie beidseits des Atlantiks war gross. Doch nun sind alle Stoffe zertifiziert und der US-Chemiekonzern Dow hält sich nach eigenen Angaben weltweit an REACH. Auch die britische Autoindustrie will auf keinen Fall von REACH erlöst werden. Deren Verband schrieb ans britische Unterhaus: „Unterschiedliche Regulierung sollte von Anfang an vermieden werden. Es ist entscheidend, dass Grossbritannien den Entscheidungen zur Evaluation (von Chemikalien) und der anschliessenden Autorisierung durch die EU folgt“. [2] Im Hinblick auf den Brexit sagt Bradford denn auch: „Grossbritanniens EU-Austritt wird es nicht von der Leine der EU-Regeln befreien. Stattdessen verliert Grossbritannien die Rolle eines Regel-Machers und wird zu einem Regel-Nehmer in einem umso enger regulierten Europa.“ [3]
Ähnlich sieht es beim Datenschutz aus. Hier legt die EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) den Internetkonzernen die Latte. Microsoft etwa hält sich weltweit daran. Für die Behörden in vielen Ländern dient der EU-Standard als Vorbild für eigene Regeln. Pansy Tlakula, die Chefin von Südafrikas Datenaufsicht, sagt: „Wir betrachten EU-Verordnungen als den optimalen Ansatz.“ [4] Damit ist das Land nicht allein. Brasilien, Japan, Kolumbien und Südkorea haben mittlerweile ähnliche Regeln. Selbst in den USA werden die Rufe lauter, eine vergleichbare Verordnung zu erlassen. Die Rufer sind Google, Apple, Facebook und Microsoft. Julie Brill, Vizepräsidentin von Microsoft, sagte bei einer Konferenz in Brüssel: „Die DSGVO schafft Klarheit, was die Verkehrsregeln sein sollen. Wir denken ein US-Gesetz sollte diese Prinzipien übernehmen.“ [5] Věra Jourová, die EU-Justizkommissarin, kann also zufrieden sein. Sie hatte von Anfang an gesagt: „Wir wollen einen globalen Standard setzen.“ [4] Christopher Kuner von der Freien Universität Brüssel geht sogar noch einen Schritt weiter: „Hinsichtlich regulatorischem Einfluss ist Europa definitiv eine Supermacht.“ [4]
Der Brüssel-Effekt funktioniert auch im Wettbewerbsrecht. Was in den USA noch als fairere Wettbewerb gilt, ist in den Augen von Brüssel oft schon Missbrauch von Marktmacht. Das ist auch den US-Technologiefirmen aufgefallen. Diese verklagen sich mittlerweile gegenseitig in Brüssel. Letztes Jahr wurde etwa Google zu einer Strafe von fünf Milliarden Euro verurteilt, weil Microsoft sich bei der EU-Kommission über den Konkurrenten beklagt hatte. [6] Es gibt aber auch Rechtsbereiche, wo der Brüssel-Effekt keine Rolle spielt. Dazu gehört die Regulierung der Finanzmärkte. Da sich Geld per Mausklick von einem Rechtsgebiet in ein anderes verschieben lässt, werden Geschäft dort gemacht, wo die Vorschriften lax und die Steuern tief sind. Daher führt der Wettbewerb zwischen Finanzzentren tendenziell zu niedrigeren Steuern (race to the bottom), während in Rechtsbereichen, wo der Brüssel-Effekt stärker wirkt, sich die strengeren Regeln durchsetzen (race to the top).
Obwohl der Brüssel-Effekt nur „ein unbeabsichtiges Beiprodukt“ der Regulierung des EU-Binnenmarkts ist, verschafft er Europa enorme Vorteile. Er „führt zu einer beachtlichen ‚Europäisierung‘ vieler wichtiger Aspekte des globalen Wirtschaftens“, so Bradford. [7] Ausserdem ist der Effekt billig: In Drittstaaten muss die EU die Durchsetzung ihrer Vorschriften nicht selbst kontrollieren. Das tun die Konzerne oder ausländische Regulierungsbehörden von sich aus und auf eigene. Das wichtigste ist aber, dass die EU die Regeln unilateral setzen kann. Sie muss mit niemandem verhandeln und braucht auch keine internationalen Organisationen, um diese Regeln durchzusetzen. Der EU ist dies durchaus bewusst. Michel Barnier, der Brexit-Beauftragte der EU-Kommission, sagte in einer Rede: „Diese Entscheidungsautonomie erlaubt uns Standards für die ganze EU zu setzen und zuzuschauen, wie diese Standards weltweit repliziert werden. Das ist die normative Macht der EU oder das, was oft ‚Brüssel-Effekt‘ genannt wird.“ [8] mic
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[1] Anu Bradford, 2012: The Brussels Effect (PDF)
[3] Anu Bradford, 15.03.2019: Why Brexit Will Not Deliver the UK Regulatory Freedom
[4] Politico, 31.01.2018: Europe’s new data protection rules export privacy standards worldwide
[5] iapp, 25.10.2018: US federal privacy law? Apple, Google, Facebook, Microsoft all hope so
[6] New Yorker, 20.07.2018: Why did the European Commission fine Google five billion dollars?