Was ist eigentlich ein Entwicklungsland?

Vor mehr als 40 Jahren wurde die Grenze zwischen dem globalen Süden und Norden festgelegt

Die meisten Staaten dieser Welt gelten als Entwicklungsländer, von Südkorea bis zum Südsudan. Grund dafür ist ein mehr als 40 Jahre alter Bericht, der nach Willy Brandt benannt ist. Für die wirklich armen Länder ist diese Klassifikation heute aber eher kontraproduktiv.

Es gibt wenige Begriffe, wo der allgemeine Sprachgebrauch und das rechtliche Verständnis stärker voneinander abweichen als beim Begriff „Entwicklungsland“. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird damit ein armes Land bezeichnet. So besteht Konsens, dass Laos, Äthiopien und Haiti Entwicklungsländer sind. Dort liegt die Wirtschaftsleistung pro Kopf bei weniger als 2000 Dollar – pro Jahr. In der UNO und anderen internationalen Organisationen gelten aber auch Singapur, Südkorea und Kuwait als „Entwicklungsländer“, obwohl in all diesen Ländern die Wirtschaftsleistung deutlich über der von Portugal liegt, einem „Industriestaat“ in der UN-Logik. Mit Armut hat der Begriff „Entwicklungsland“ offensichtlich also nichts zu tun.

Wer verstehen will, wo der Begriff herkommt, muss mehr als 40 Jahr zurückgehen. Im Jahr 1980 veröffentlichte die Nord-Süd-Kommission der UNO den „Brandt-Bericht“, benannt nach Altkanzler Willy Brandt, der die Kommission geleitet hatte. [1] Dieser Bericht enthält die „Brandt-Linie“, die die Welt in Industriestaaten und Entwicklungsländer einteilt. Zu ersteren gehörten sowohl die westlichen Industriestaaten von Kanada über Westeuropa bis Japan und Australien, als auch die Länder des „Ostblocks“, also Osteuropa und die Sowjetunion. Und alle anderen Länder galten als „Entwicklungsländer“, also ganz Lateinamerika, Afrika und fast ganz Asien. Diese Unterscheidung wurde dann von verschiedenen internationalen Organisationen übernommen und oftmals vertraglich fixiert. So hat die UN-Klimakonvention aus dem Jahr 1992 zwei Anhänge: Der erste umfasst alle Länder nördlich der Brandt-Linie (plus die Türkei) und der zweite gar nur die westlichen Industriestaaten. Alle anderen Länder gelten wie im Brandt-Bericht als „Entwicklungsländer“.

Die Linie. Im Jahr 1980 war die Welt noch nicht so kompliziert wie heute. Eine einfache Zweiteilung erfasst die Charakteristika der Länder gut genug. (Grafik: Jovan.gec / Wikipedia)
Die Linie. Im Jahr 1980 war die Welt noch nicht so kompliziert wie heute. Eine einfache Zweiteilung erfasst die Charakteristika der Länder gut genug. (Grafik: Jovan.gec / Wikipedia)

Dass diese rigide Zweiteilung der Welt der Vielfalt der Länder nicht wirklich gerecht wird, haben denn auch manche Organisationen verstanden. Die Weltbank unterscheidet etwa vier Gruppen von Ländern: Länder mit hohem und mit niedrigem Einkommen und dazwischen zwei Gruppen mit mittlerem Einkommen. [2] Dabei sieht man: Viele „Entwicklungsländer“ entwickeln sich tatsächlich. Während im Jahr 1987, zu Beginn der Datenreihe, 30 Prozent aller Länder ein niedriges Einkommen hatten, sind es heute nur noch 12 Prozent. Und umgekehrt ist die Gruppe der Länder mit hohem Einkommen deutlich gewachsen: von 25 auf 40 Prozent der Staaten. Das einfache Abzählen von Ländern verdeckt aber noch den Fortschritt seit 1987, denn China und Indien hatten damals ein niedriges Einkommen. Heute ist China in der Gruppe mit „höherem mittlerem“ und Indien in der Gruppe mit „niedrigerem mittlerem“ Einkommen. Damit haben sich die Lebensbedingungen von mehr als zwei Milliarden Menschen dramatisch verbessert.

Dynamisch. Die aktuelle Einteilung der Länder in die vier Gruppen der Weltbank nach Einkommen (hoch = dunkelgrün, mittelhoch = hellgrün, mitteltief = hellviolet, tief = violet) (Grafik: Weltbank)
Dynamisch. Die aktuelle Einteilung der Länder in die vier Gruppen der Weltbank nach Einkommen (hoch = dunkelgrün, mittelhoch = hellgrün, mitteltief = hellviolet, tief = violet) (Grafik: Weltbank)

Für die internationale Diplomatie ist die dynamische Länderklassifikation der Weltbank, die jedes Jahr neu berechnet wird, aber irrelevant. Dort gilt noch immer die strikte Zweiteilung der Welt in Industriestaaten und Entwicklungsländer entlang der Brandt-Linie. Das nützt denjenigen Entwicklungsländern, die seither wohlhabender geworden sind. Ihr Status als „Entwicklungsland“ bedeutet beim Klima etwa, dass sie nicht zur finanziellen Unterstützung der wirklich armen Länder beitragen müssen. Folglich sind die vehementesten Verfechter der klassischen Zweiteilung denn auch oft Länder wie Saudi-Arabien, ein Land mit hohem Einkommen. Umgekehrt sind die wirklich armen Länder tendenziell die Verlierer der Zweiteilung aus gleich zwei Gründen: Zum einen wird die Zahl der potentiellen Geberländer durch die Zweiteilung künstlich verkleinert Und zum anderen wehren sich die klassischen „Industriestaaten“ gegen höhere Finanzzusagen, so lange sie als einzige Unterstützung leisten müssen. Kurz, die Brandt-Linie war gut gemeint, aber 40 Jahre später konterkariert sie ihre eigene Zielsetzung.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Dann abonnieren Sie doch weltinnenpolitik.net per RSS

 

[1] Independent Commission on International Development Issues, 1980: North–South: A Programme for Survival

[2] Weltbank, 01.07.2024: World Bank country classifications by income level for 2024-2025