Der WTO-Experte Marco Molina erklärt, was interessenbasiertes Verhandeln bringt
Seit 2018 weigern sich die USA, neue Richter an das Berufungsgericht der Welthandelsorganisation (WTO) zu berufen. Daher ist diese Instanz nun nicht mehr beschlussfähig und die WTO-Regeln letztlich nicht mehr durchsetzbar. Daher sollen die beiden Instanzen des WTO-Streitbeilegungssystems reformiert werden. Sie haben bis vor kurzem die Verhandlungen dazu geleitet und WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala ist zuversichtlich, dass noch dieses Jahr Fortschritte erzielt werden. Woher hat sie diesen Optimismus?
Wir haben in den letzten beiden Jahren große Fortschritte gemacht, hatten aber nicht genug Zeit, die Verhandlungen vor dem Ministertreffen im März abzuschließen. Bis Ende dieses Jahres sollte das aber möglich sein. Anschließend kann der WTO-Rat das Paket verabschieden. Dieses tritt dann am Folgetag in Kraft. Daher ist es absolut möglich, dass Reformen beim Streitbeilegungsverfahren noch dieses Jahr in Kraft treten.
Aktuell geht es nur um die Reform der ersten Instanz und nicht des Berufungsgerichts, oder?
Ja. Wir wollen mehr Optionen zur Streitbeilegung anbieten, etwa Mediation durch einen unparteiischen Vermittler oder die Nutzung von Schiedsgerichten. So können die sehr langwierigen und kostspieligen WTO-Verfahren vermieden werden wie auch ein Teil der Berufungsverfahren. Außerdem wird das System dadurch für kleine und arme Länder einfacher zu nutzen sein.
Und wann kommt die Reform der Berufungsinstanz?
Bald. Eine Lösung für die Berufungsinstanz ist in Griffweite, wenn weiter der interessenbasierte Ansatz verfolgt wird.
Sie haben eine neue Methode bei den Verhandlungen eingeführt, den interessenbasierten Ansatz. Wie funktioniert dieser?
Bei dieser Methode muss man nicht zwischen zwei Optionen auswählen. Es geht darum, die Logik zu verstehen, die sich hinter den Ideen der anderen Parteien versteckt. Was sind deren Interessen und Bedenken? Und dann muss man kreativ sein, um all diese Interessen und Bedenken miteinander in Einklang zu bringen. So kommt man zu einer lösungsorientierten Diskussion. Nehmen wir das Beispiel Transparenz. Manche Länder möchten, dass die Verfahren zur Streitbeilegung vertraulich sind. Diese Länder wollen keinen Druck von Interessengruppen auf ihre Regierungen währen eines Verfahrens. Das ist ein verständliches Anliegen. Andere Länder hingegen wollen, dass die Verfahren öffentlich sind, damit alle Beteiligten für ihr Vorgehen verantwortlich gemacht werden können. Wenn man einem positionsbasierten Ansatz folgt, dann hat man zwei Optionen: Entweder Vertraulichkeit oder eben nicht. Wenn man aber einem interessenbasierten Ansatz folgt, dann gibt es mehr Möglichkeiten, etwa die nachträgliche Offenlegung der Unterlagen aus dem Verfahren. Damit kann man beide Interessen miteinander in Einklang bringen: Während des Verfahrens sind alle Unterlagen vertraulich, damit niemand Druck auf die Regierung ausüben kann und nach Abschluss des Verfahrens wird alles veröffentlicht, damit das Handeln aller Beteiligten transparent ist.
Und diesen logisch erscheinenden Ansatz hat man bisher nie genutzt?
Die Methode ist nicht neu, sondern wurde vor mehr als 40 Jahren an der US-Universität Harvard entwickelt. Daher war es für mich ein Schock, als ich im Jahr zur 2004 WTO kam und gesehen habe, dass es dort keine wirklichen Diskussionen zwischen den Ländern gab. Selbst die Repliken auf die Positionen anderer Länder wurden schriftlich verfasst. Zudem wurde die Organisation mit der Zeit immer formalistischer. Ich habe immer wieder versucht, den interessenbasierten Ansatz zu lancieren, aber ich war stets der einzige und Guatemala ist kein WTO-Mitglied, das fundamentale Änderungen durchsetzen kann. Erst als ich mit der Leitung der Verhandlungen zur Streitbeilegung beauftragt wurde, hatte ich die Möglichkeit diesen Ansatz zu etablieren.
Ließe sich diese Methode auch in anderen internationalen Verhandlungen etwa beim Klima nutzen?
Beim Klima haben alle Länder das gleiche Ziel, die Klimaerwärmung zu stoppen. Aber die Länder sehen für sich unterschiedliche Wege, um dieses Ziel zu erreichen. In dieser Situation könnte man den interessenbasierten Ansatz ebenfalls nutzen. Dann würden die Länder erkennen, dass ihre Interessen und Bedenken ähnlich sind oder sich zumindest miteinander vereinbaren lassen.
Sie wurden kurz vor dem letzten Ministertreffen plötzlich von der neuen Regierung ihres Landes entlassen. Wissen Sie mittlerweile warum?
Nein. Es gibt verschiedene Gerüchte, aber ich werde mich dazu nicht äußern. Was ich am meisten bedauere ist, dass die Entscheidung meiner Regierung negative Folgen für die WTO haben wird. Wenn wir das Problem mit dem Streitbeilegungssystem nicht lösen können, dann werden viele Fragen: Was ist diese Organisation noch wert? Warum sollen wir neue Abkommen aushandeln, wenn man diese nicht durchsetzen kann? Das ist also eine existenzielle Gefahr für die WTO. Und eine Entscheidung hat nun ein signifikantes Hindernis für eine Reform des Streitbeilegungssystems geschaffen. Noch hat die WTO keinen Ersatz für mich gefunden.
Marco Molina, 47, ist Anwalt für Handelsrecht und der frühere Delegierte Guatemalas bei der WTO. Er leitete bis vor kurzem die Verhandlungen über eine Reform des Streitbeilegungssystems.
Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Dann abonnieren Sie doch weltinnenpolitik.net per RSS