Der Umweltökonom Sophus zu Ermgassen erklärt im Interview, wie sich private Mittel für den Schutz der Artenvielfalt mobilisieren lassen
Biodiversitätskompensationen sind eigentlich nicht neu. In Deutschland wurden diese im Jahr 1976 mit dem Bundesnaturschutzgesetz eingeführt. Warum gibt es plötzlich so viel Aufmerksamkeit dafür?
Man muss zwischen Biodiversitätskompensationen und –gutschriften unterscheiden. Kompensationen sollen einen Schaden kompensieren, der woanders entstanden ist, so wie CO2-Kompensationen. Kompensationen sind meist Teil nationaler Politik und verpflichtend. In den USA gibt es etwa den Markt für Feuchtgebiete und in Deutschland, Frankreich und neuerdings Großbritannien haben wir ähnliche Märkte. Beim aktuellen Hype geht es aber um freiwillige Gutschriften. Diesen steht kein Schaden gegenüber und sie müssen auch nicht unbedingt national gedacht werden. Dazu wurde beim Finanzgipfel letztes Jahr in Paris eine französisch-britische Initiative lanciert, die ich wissenschaftlich berate. Letztlich sind aber sowohl Kompensationen als auch Gutschriften handelbare Papiere so wie Finanzmarktinstrumente.
Aber wo kommt der Hype her?
Die Öffentlichkeit ist sich des Naturverlusts stärker bewusst. Daher gibt es nun Initiativen wie die Task Force zur Offenlegung finanzieller Risiken mit Bezug zur Natur (TNFD), die von den G20-Staaten ins Leben gerufen wurde. Die Idee ist, dass Firmen über die Folgen ihrer Tätigkeit auf die Natur berichten und über die Risiken, die das mit sich bringt. Dann können Investoren diese Risiken mitberücksichtigen. Und jetzt kommen die Biodiversitätsgutschriften ins Spiel: Diese sollen es Firmen ermöglichen, in den Erhalt der Natur zu investieren, um zu zeigen, dass sie etwas gegen die Risiken tun. Ein zweiter Faktor ist der Glaube, es gäbe nicht genug öffentliche Mittel für den Naturschutz und daher sei privates Geld erforderlich. Um privates Geld zu mobilisieren, braucht es aber eine Art standardisiertes Finanzmarktpapier, mit dem Investoren eine Rendite erzielen können und die Biodiversitätsgutschriften gelten hier als der vielversprechendste Ansatz. Daher kommt der Hype.
Das macht doch Sinn: Es gibt zu wenige Investitionen in den Naturschutz und daher haben zusätzliche Mittel einen hohen Grenznutzen. Gleichzeitig gibt es Firmen, die ein Interesse haben dürften zu zeigen, dass sie das Thema ernst nehmen. Das ist doch die perfekte Kombination, oder?
Wenn Firmen den Eindruck hätten, dass es wirtschaftlich interessant ist, in die Natur zu investieren, warum tun sie das nicht schon jetzt? Naturschutzprojekte gibt es schon seit Jahrhunderten. Wenn Firmen wirklich daran interessiert wären, etwas gegen die Folgen ihrer Tätigkeit auf die Artenvielfalt zu tun, warum braucht es dazu erst ein Finanzmarktinstrument? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das einen großen Unterschied im Verhalten der Firmen machen würde.
Vielleicht sind Firmen einfach mit Finanzmarktinstrumenten vertraut.
Ja, das ist sicher ein Argument. Vielleicht glauben sie auch wirklich, dass diese Instrumente ihren Zugang zu Kapital verbessern und ihre öffentliche Akzeptanz erhöhen. Es gibt vernünftige Argumente, um in diese naturbezogenen Instrumente zu investieren. Aber die gleichen Argumente könnten auch für direkte Investitionen der Firmen gemacht werden.
Sie haben gesagt, es gäbe den „Glauben“, dass es an öffentlichen Mitteln mangelt. Ist das nicht eher eine Tatsache?
Wir geben extrem wenig Geld für den Naturschutz aus. In Großbritannien sind das nur 0,031 Prozent der Wirtschaftsleistung. Wenn man das verdoppelt, ist das immer noch ein winziger Teil der öffentlichen Ausgaben. Man könnte die öffentlichen Ausgaben für die Natur also dramatisch erhöhen, ohne dass der Haushalt in Schieflage gerät.
Kann man abschätzen, wie viel Geld sich mit Biodiversitätsgutschriften mobilisieren ließe?
Es gibt viele Schätzungen. Die Frage ist, wie glaubwürdig sie sind und von wem sie kommen. Eine Schätzung von jemandem, der von Biodiversitätsgutschriften profitieren würde, ist unglaubwürdig. Es ist hingegen klar, dass man mit verpflichtenden Biodiversitätskompensationen wie dem Markt für Feuchtgebiete in den USA auf nationaler Ebene große Summen mobilisieren kann. Aber darüber reden wir nicht: Wir reden über freiwillige Biodiversitätsgutschriften. Das gleicht eher dem freiwilligen Markt für Klimaprojekte, der etwa zwei Milliarden Dollar pro Jahr umsetzt.
Oder anders: Was müsste eine Firma wie Nestlé bezahlen, um die Folgen auf die Artenvielfalt zu kompensieren, die die industrielle Bewirtschaftung von einem Hektar mit Soja verursacht?
Jetzt wird es interessant. Jetzt geht es nicht mehr um nationale Kompensationsmärkte, sondern um multinationale Firmen, die für die ökologischen Folgen ihrer Lieferketten bezahlen. Das ist eine riesige Menge an wirtschaftlicher Aktivität und dann kommt man natürlich zu sehr großen Summen, um das auszugleichen. Das sind die höchsten Schätzungen.
Für Firmen müsste es interessant sein, sagen zu können: Wir sind „naturneutral“. Dazu müssten sie erst „klimaneutral“ werden und dann auch noch alle anderen Folgen für die Natur ausgleichen. Gibt es Firmen, die daran interessiert sind?
Es gibt viele Firmen, die Interesse signalisieren, aber wenige, die heute schon investieren. Aber es ist eigentlich noch zu früh, um wirklich etwas dazu zu sagen. Es gab immer wieder einen Hype um das eine oder andere Finanzinstrument für den Naturschutz. Vor gut 30 Jahren hat etwa der US-Pharmakonzern Merck mit Costa Rica einen Vertrag zur Nutzung des genetischen Materials in den Urwäldern Costa Ricas geschlossen. Damals dachten alle, solche Verträge kämen jetzt in großer Zahl, aber das ist nicht passiert. Selbst die freiwilligen CO2-Kompensationen sind immer noch ein winziger Markt. Wir wissen also nicht, welchen Weg die Biodiversitätsgutschriften nehmen. Wird sich ein riesiger Markt für dieses Instrument entwickeln oder lässt es sich nicht skalieren wie andere zuvor? Es gibt viele Gründe, warum die früheren Instrumente nie durchgestartet sind.
Ein Problem könnte sein, dass Biodiversität naturgemäß divers ist, während Investoren ein standardisiertes Instrument bevorzugen.
Das ist die größte Herausforderung. Wenn man den freiwilligen CO2-Markt betrachtet, dann ist eine Tonne CO2 eine Tonne CO2. Hier haben wir ein global akzeptiertes Maß und das haben wir für Biodiversität nicht. Um einen Markt zu skalieren, ist es wünschenswert ein solches Maß zu haben, aber bei der Artenvielfalt macht das keinen Sinn. Wie misst man Artenvielfalt? Geht es um die Fläche? Geht es um die Gefährdung bestimmter Arten oder geht es um die Zahl der Tiere? Damit bekommt man ganz unterschiedliche Resultate. Zudem muss man die Artenvielfalt regional betrachten. So etwas rund um die Welt zu handeln, funktioniert ökologisch gesehen nicht. Man würde Dinge handeln, die nicht vergleichbar sind, etwa Naturverlust in Australien gegen ein Waldprojekt im Kongo.
Vielleicht ist das globale Maß Geld. Ein Dollar ist ein Dollar. Nestlé müsste einfach einen Betrag X pro Hektar bezahlen, um behaupten zu können, „naturneutral“ zu sein. Und dieses Geld würde dann irgendwo auf der Welt in die besten Projekte investiert.
Dieses System haben wir schon beim freiwilligen CO2-Markt und dort haben wir gesehen, dass viele Projekte nicht die behauptete Klimawirkung haben. Das muss man überprüfen können, wenn darauf eine Behauptung beruht, wie „klimaneutral“ oder eben „naturneutral“ zu sein. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin ein großer Befürworter von mehr privaten Investitionen in den Naturschutz. Ich denke, Firmen sollten in die Natur investieren, aber man muss vorsichtig sein, welche Behauptungen sie daraus ableiten. Sonst bekommt man Greenwashing.
Was ist derzeit das robusteste System, entweder für Biodiversitätskompensationen oder für –gutschriften?
Bis jetzt habe ich noch kein System gesehen, das sein Ziel vollständig erreicht und den Naturschaden an einem Ort an einem anderen Ort komplett ausgleicht. Wir wissen allerdings sehr viel darüber, wie man das machen müsste. Es gibt zwei Gründe dafür, dass das in der Vergangenheit nicht passiert ist: Entweder war das Politikdesign schlecht oder die Regierungen haben zu wenig getan, um die Resultate zu überprüfen und so sicherzustellen, dass der Markt wirklich funktioniert. Was auch fehlt, sind Instrumente für den Fall, dass ein Kompensationsprojekt nicht den behaupteten Effekt hat. Regierungen nehmen die Projektentwickler fast nie in die Pflicht, wenn sich ihre Projekte nachträglich als unzureichend herausstellen.
Was wäre also der beste Weg, um Firmen dazu zu bringen, mehr in die Natur zu investieren? Die wollen ja einen Vorteil aus diesen Investitionen ziehen. Was kann man ihnen also anbieten?
Was in der Vergangenheit am besten funktioniert hat, um privates Geld zu mobilisieren, sind die verpflichtenden, nationalen Kompensationsmärkte. Dadurch werden externe Kosten internalisiert. Die Märkte in den USA und Australien haben so Milliarden für den Naturschutz mobilisiert. Man sollte diese Märkte daher skalieren und rund um die Welt einführen. Das hätte eine relativ große Wirkung auf die Funktionsweise unserer Wirtschaft. Bei den freiwilligen Märkten wird man sehen, wie sich diese entwickeln. Im Prinzip könnten diese aber funktionieren: Wenn eine Firma, die ihre Auswirkungen auf die Natur gemäß den TNFD-Regeln offenlegt, dann in der gleichen Landschaft in die Natur investiert, dann könnte sie mit gutem Recht sagen: Wir reduzieren die (finanziellen) Risiken aus der Naturbelastung durch gezielte Investitionen. Aber ob sich daraus ein großer Markt für freiwillige Gutschriften entwickeln wird, kann man noch nicht sagen. Wir sind noch ganz am Anfang.
Könnte man da nicht standardisierte Märkte in allen Ländern schaffen, die überall gleich funktionieren? Man könnte das zum Beispiel im Rahmen der UN-Biodiversitätskonvention organisieren.
Die Idee klingt interessant, aber ich habe noch nie im Detail darüber nachgedacht. Eine institutionelle Struktur mit einem globalen Rahmen und nationaler Implementierung ist spannend. Wir haben die perfekte Struktur aber noch nicht gefunden. Bei der Biodiversität sind wir jetzt an einem Punkt, den die CO2-Märkte vor Jahrzehnten erreicht haben. Wir haben in der Zwischenzeit viel gelernt und jetzt müssen wir sicherstellen, dass wir die richtigen – und nicht nur die einfachen – Lektionen gelernt haben.
Sophus zu Ermgassen, 30, ist Umweltökonom an der britischen Oxford Universität und spezialisiert in Biodiversitätsfinanzierung. Er ist zudem Berater der britischen Regierung in gleich drei verschiedenen Kommissionen.
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