In China gab es immer Industriepolitik doch nun ziehen auch die USA und die EU nach
Im Westen war es bislang verpönt, ins Marktgeschehen einzugreifen und einzelne Branchen besonders zu fördern. Doch die Klimakrise, die Pandemie und schließlich der Krieg haben zu einem Umdenken geführt. Regierungen wollen ihre Industrie für solche Schocks widerstandsfähiger machen.
Was ist Industriepolitik?
Industriepolitik ist „ein proaktives Bündel von Maßnahmen, die von der Regierung zur Veränderung der sektoralen Struktur der Wirtschaft eingesetzt werden“, schreibt die US-Universität Stanford. [1] Die Allokation knapper Ressourcen wie Kapital und Arbeit wird also nicht den Marktkräften überlassen, sondern die Regierung greift gezielt ein, um einen Sektor oder einzelne Branchen zu stärken. Das kann sie mit Subventionen, Steuererleichterungen oder Zöllen erreichen.
Seit wann und wo gibt es Industriepolitik?
Industriepolitik ist sehr alt. Schon im 17. Jahrhundert versuchte der französische Finanzminister Jean-Baptiste Colbert, die Industrialisierung seines Landes zu fördern, indem er hohe Zölle auf Importe erhob. Einen ähnlich merkantilistischen Ansatz verfolgte dann auch Alexander Hamilton, der erste Finanzminister nach der Unabhängigkeit der USA im Jahr 1776. Hamilton sagte über die Idee des Ökonomen Adam Smith, dass eine „unsichtbare Hand“ den Markt lenke und dieser daher möglichst frei von Regierungsinterventionen wie Zöllen sein sollte, diese Idee sei zwar „geometrisch richtig“ aber „praktisch falsch“. [2] Spätestens mit dem „Washington Consensus“ respektive dem Neoliberalismus, der möglichst freie Märkte fordert, war Industriepolitik in der westlichen Welt dann allerdings verpönt. Industriepolitik beschränkte sich in der Folge auf die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und die Forschungsförderung. Asien folgte hingegen nie diesem Trend. Der Aufstieg von Japan, Südkorea, den südostasiatischen „Tigerstaaten“ und schließlich China zu erfolgreichen Exportnationen war nicht zuletzt einer Mischung aus Markt- und Planwirtschaft zu verdanken. Doch nun erlebt Industriepolitik auch in den USA und der EU eine Renaissance.
Warum geriet Industriepolitik im Westen in Misskredit?
Wenn die Regierung einzelne Branchen bevorzugt behandelt, wollen natürlich alle Wirtschaftsteilnehmer zu diesem illustren Kreis gehören. Daher besteht die Gefahr, dass sich Firmen mehr auf das Lobbyieren bei der Regierung konzentrieren als auf ihr eigentliches Geschäft.
Und was hat sich verändert, dass Industriepolitik nun wieder salonfähig ist?
Als in der Pandemie plötzlich viele Lieferketten unterbrochen waren, fiel Firmen und Regierungen auf, wie verletzlich ein System ist, dass von globalen Lieferungen abhängig ist. Das galt etwa für Medikamente, deren Wirkstoffe oft in China hergestellt werden. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine rückten dann sicherheitspolitische Überlegungen in den Vordergrund. So ist etwa die Abhängigkeit von China bei Solarpaneelen eine Gefahr für die Energiewende und letztlich die Energieversorgung von Europa und den USA. Dort kommt noch hinzu, dass Präsident Joe Biden davon überzeugt ist, die Deindustrialisierung stoppen zu müssen, um die Wahl eines autoritären Kandidaten wie Donald Trump in Zukunft zu verhindern.
Wie funktioniert Chinas Industriepolitik?
Kein Land gibt so viel Geld für Industriepolitik aus wie China. Die Stanford Universität schätzt, dass China 1,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für industriepolitische Maßnahmen aufwendet. Wer in den Genuss dieser Großzügigkeit kommt, legt das „Made in China 2025“ Programm fest. Dieses umfasst zehn Branchen, von Erneuerbaren und Elektroautos über Chips und Roboter bis hin zu Medikamenten. Das Ziel ist, jeweils die gesamte Lieferkette für diese Produkte zu dominieren. Die US-Handelskammer in Peking schrieb in einer Studie im 2017: Das Programm „zielt darauf ab, die Macht des Staates zu nutzen, um die Wettbewerbsdynamik auf den globalen Märkten in Branchen zu verändern, die für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit entscheidend sind“. [5]
Wie sieht die neue US-Industriepolitik aus?
Die USA begannen unter US-Präsident Donald Trump wieder mit einer interventionistischen Industriepolitik. Dieser versuchte mit Zöllen die Industrieproduktion in den USA zu fördern und so das Handelsbilanzdefizit abzubauen. Doch dies gelang nicht. Am Ende seiner Amtszeit war das Defizit größer als zu Beginn. [3] Sein Nachfolger, Joe Biden, verfolgt ebenfalls das Ziel, die Industrieproduktion und damit die Zahl der Industriearbeitsplätze zu erhöhen. Dazu setzt er allerdings nicht auf Zölle, sondern auf Subventionen für bestimmte Branchen. Mittlerweile wurden zwei Gesetze verabschiedet, die einen klar industriepolitischen Charakter haben:
- Das „Chips and Science“ Gesetz stellt 280 Milliarden Dollar für die Entwicklung und Produktion von Computerchips zur Verfügung. Firmen, die von diesem Geld profitieren wollen, müssen zusagen, keine Fertigungsstätten in China, Iran, Nordkorea oder Russland zu bauen. [7]
- Das „Inflationsreduktionsgesetz” ist primär ein Klimagesetz. Es stellt über zehn Jahre 369 Milliarden Dollar für eine große Zahl einzelner Maßnahmen zur Verfügung – von Kaufprämien für Elektroautos über Steuervergünstigungen für Haushaltsgeräte, Wärmepumpen und Solaranlagen bis zu Geld für mehr Bäume in Städten. Außerdem sollen Kredite im Wert von 250 Milliarden Dollar abgesichert werden. Damit soll nicht zuletzt der Aufbau von Herstellungskapazitäten etwa für Solaranlagen “Made in USA” gefördert werden. Die Förderung hängt bei vielen Produkten davon ab, ob diese in den USA hergestellt wurden. Diese „Kauf in Amerika“ Klauseln verstoßen wahrscheinlich gegen die Regeln der Welthandelsorganisation WTO. Dass sie in nächster Zeit zurückgenommen werden, gilt aber als nahezu ausgeschlossen. Die EU befürchtet daher, dass die Hersteller von Elektroautos, Batterien oder Solarpaneelen zukünftige Fabriken in den USA errichten, um von der Förderung zu profitieren. Nicht zuletzt darum, hat die EU ein Pendant zu diesem US-Gesetz verabschiedet, den „Green Deal Industrial Plan“.
Welche industriepolitischen Maßnahmen gibt es in der EU?
Das Verhältnis der EU zu Industriepolitik ist ambivalent. Einerseits wurde mit staatlicher Förderung der Airbuskonzern aufgebaut und andererseits gibt es strikte Regeln für staatliche Beihilfen an Unternehmen. In den letzten Jahren wurden allerdings mehrere Programme aufgelegt, die einzelne, „strategische“ Branchen gezielt fördern und die Beihilferegeln zum Teil aussetzen. Derzeit gibt es in der EU folgende industriepolitischen Programme:
- Mit der „Chips for Europe“ Initiative will die EU ihren globalen Marktanteil an der Produktion von Computerchips von zehn auf 20 Prozent verdoppeln. Dafür sollen 43 Milliarden Euro an öffentlichen und privaten Mitteln investiert werden. [4]
- Die “EU-Batterieallianz” fördert den Aufbau einer europäischen Batterieindustrie. Sie umfasst kritische Rohstoffe, Forschungsförderung und schließlich Kredite der Europäischen Investitionsbank. [6]
- Der “Green Deal Industrial Plan“ ist die EU-Antwort auf das US-Inflationsreduktionsgesetz und hat zum Ziel, dass 40 Prozent aller klimafreundlichen Technologien – von Solarzellen über Wärmepumpen bis zu Elektrolyseuren – in der EU hergestellt werden. [10] Bei der Vorstellung des Plans sagte Ursula von der Leyen, die Chefin der EU-Kommission: „Wir haben die einmalige Chance, die industrielle Führung der EU im schnell wachsenden Sektor der Netto-Null-Technologien zu sichern. Europa ist entschlossen, die Revolution im Bereich der sauberen Technologien anzuführen.“ Damit das gelingt, werden insbesondere die Beihilferegeln gelockert. Zu dem Plan gehört außerdem der „Net Zero Industry Act“, der allerdings noch nicht verabschiedet wurde. Mit diesem Gesetz will die EU energieintensiven Industrien wie der Stahl-, Dünger- und Zementindustrie dabei helfen, auf Produktionsmethoden umzustellen, bei denen keine CO2-Emissionen freigesetzt werden. [9]
- In Folge der Coronapandemie schuf die EU im Jahr 2020 den „NextGenerationEU“ Fonds. Dieser umfasst 750 Milliarden Euro und wird über Schulden finanziert, die dann über viele Jahre aus dem EU-Budget zurückbezahlt werden. 30 Prozent dieses Fonds sowie des normalen EU-Haushalts sollen in den Klimaschutz investiert werden. Aus diesem Fonds wird zudem die „REpowerEU“ Strategie finanziert. Diese dient dazu, die EU von russischem Erdgas unabhängig zu machen, insbesondere durch Investitionen in erneuerbare Energien. [11]
- Die EU hat zudem einen „InvestEU“ Fonds. Dieser umfasst 26 Milliarden Euro, mit denen Kredite im Wert von 372 Milliarden Euro abgesichert werden. Das Ziel ist der Aufbau einer nachhaltigen Verkehrs- und Energieinfrastruktur. [8]
- Im Sommer könnte schließlich noch ein größerer Fonds beschlossen werden, der „Europäische Souveränitätsfonds“, um industriepolitische Vorhaben zu finanzieren. Da große EU-Mitglieder mehr Mittel haben, um ihre Industrien zu fördern, als kleine, befürchten letztere einen Nachteil durch die Lockerung der Beihilferegeln. Ein gemeinsamer Fördertopf auf EU-Ebene würde dieses Problem beheben. Von der Leyen sagt zu diesem Fonds: „Ich werde mich für die Einrichtung eines neuen Europäischen Souveränitätsfonds einsetzen. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass die Zukunft der Industrie in Europa gemacht wird.“ [12]
Wird die Begeisterung für Industriepolitik wieder abebben oder wird es sogar zu einem Subventionswettlauf zwischen den großen Wirtschaftsblöcken kommen?
In den letzten Jahren scheint sich die Rollenverteilung zwischen dem Staat und der Wirtschaft grundsätzlich verschoben zu haben. Es reicht nicht länger, dass der Markt für eine „optimale“ Allokation von Ressourcen sorgt. Der Staat und die Gesellschaft wollen, dass dabei zusätzliche Kriterien wie sicherheits- oder gesundheitspolitische berücksichtigt werden. Solange die Geopolitik nicht wieder in ruhigeres Fahrwasser zurückkehrt, wird das voraussichtlich so bleiben. Ob es zu einem Subventionswettlauf zwischen den USA und Europa kommen wird, hängt nicht zuletzt von den Verhandlungen ab, die die EU und die USA derzeit führen. Die EU will erreichen, dass die USA für europäische Firmen eine Ausnahme von den „Kauf in Amerika“ Klauseln machen. Da die USA und die EU sehr ähnliche sicherheits- und klimapolitische Ziele verfolgen und niemand Interesse an einem Subventionswettlauf hat, sollte hier eine Lösung möglich sein.
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[1] Stanford, 22.12.2022: Asessing the Scope, Goals and Implications of China‘s Industrial Policy (PDF)
[2] The Economist, 11.01.2023: Warnings from history for a new era of industrial policy
[3] Politico, 05.02.2021: America’s trade gap soared under Trump, final figures show
[4] Bruegel, 02.06.2022: Is the EU Chips Act the right approach?
[5] CRS, 10.03.2023: “Made in China 2025” Industrial Policies: Issues for Congress (PDF)
[6] EU, Stand 23.03.2023: European Battery Alliance
[7] McKinsey, 04.10.2022: The CHIPS and Science Act: Here’s what’s in it
[8] EU, Stand 23.03.2023: About InvestEU
[9] EU, Stand 23.03.2023: Net Zero Industry Act
[10] CarbonBrief, 17.03.2023: How the EU wants to race to net-zero with ‘Green Deal Industrial Plan’
[11] CarbonBrief, 20.05.2022: How the EU plans to end its reliance on Russian fossil fuels
[12] Thierry Breton, 15.09.2022: A European Sovereignty Fund for an industry “Made in Europe”