Droht die Deutschland Deindustrialisierung?

Industrien könnten in Länder mit billigem Wasserstoff abwandern

Der Transport von Wasserstoff per Schiff ist teuer. Industrieregionen, die darauf angewiesen sind, verlieren daher ihre Wettbewerbsfähigkeit. Eine Deindustrialisierung Deutschlands kann aber noch verhindert werden, wenn genügend Wasserstoff in Europa produziert wird.

Wo Industrien entstehen, hängt insbesondere von der Verfügbarkeit billiger Energieträger ab. Der Begründer der Ökonomie, Adam Smith, schrieb schon im Jahr 1776: „Der Preis von Energie hat einen so großen Einfluss, dass sich die Industrie in ganz Großbritannien hauptsächlich auf die Kohleregionen beschränkt hat, da andere Teile des Landes nicht so billig arbeiten können.“ [1] Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Studie aus dem vorletzten Jahr, die das Wachstum von Städten vor und nach dem Beginn der Industrialisierung untersucht hat: „Vor 1750 gab es keinen Zusammenhang zwischen der Nähe zu den Kohlerevieren und dem Wachstum; nach 1750 wuchsen die Städte, die näher an den Kohlerevieren lagen, wesentlich schneller als die weiter entfernten.“ [2] Oder anders: Das Ruhrgebiet hat so viel Industrie, weil es dort Kohle gibt.

Doch Kohle ist der Energieträger der Vergangenheit. In der Zukunft werden immer mehr Industrien, wie Stahl oder Chemie, Wasserstoff nutzen, der mit Hilfe von Grünstrom hergestellt wurde. Aus Sicht alter Industriestandorte hat Wasserstoff aber einen zentralen Nachteil: den Transport. Wasserstoff hat zwar eine sehr hohe Energiedichte im Vergleich zu seinem Gewicht, aber nicht zu seinem Volumen. Um die gleiche Energiemenge wie auf einem Tankschiff für Flüssiggas zu transportieren, braucht man zweieinhalb solcher Schiffe. Hinzu kommt, dass Wasserstoff auf minus 253 Grad gekühlt werden muss, um ihn zu verflüssigen und nicht nur auf minus 162 Grad wie bei Flüssiggas. Beides kostet. Ähnlich sieht es bei Wasserstoffderivaten wie Ammoniak oder synthetischen Kraftstoffen aus, wenn diese am Zielort wieder in Wasserstoff umgewandelt werden. Durch die vielen Umwandlungen wird der Wasserstoff teuer. Michael Liebreich, der Gründer des britischen Thinktanks Bnef, schreibt daher: „Die einzige Methode, Wasserstoff wirtschaftlich zu transportieren, ist als Gas per Pipeline.“ [3]

Location, location, location. Die Kombination von Eisenerzmine und Erneuerbaren könnte über den Standort der Stahlwerke der Zukunft entscheiden. (Foto Rio Tinto)
Location, location, location. Die Kombination von Eisenerzmine und Erneuerbaren könnte über den Standort der Stahlwerke der Zukunft entscheiden. (Foto Rio Tinto)

Aus europäischer Sicht bedeutet das: Neben der Eigenproduktion sind einzig Importe aus Nordafrika, der Ukraine oder der Türkei realistisch. Die – auch von der Bundesregierung – angedachten Wasserstoffimporte aus Kanada oder Namibia werden hingegen zu teuer sein. Das zeigt auch eine österreichische Studie, die Importe aus Chile oder den Arabischen Emiraten mit solchen aus Marokko verglichen hat: Wegen der Transport- und Umwandlungskosten ist der Wasserstoff aus Marokko halb so teuer wie der von weiter weg. [4 s. S. 35] Die Industrie hat aber noch eine andere Option: Sie kann ihre Produktion in Länder verlagern, in denen es Sonne und Wind im Überfluss gibt und Wasserstoff günstig hergestellt werden kann. Anschließend wird statt Wasserstoff das fertige Produkt verschifft. Eine Studie der Internationale Organisation für erneuerbare Energien (Irena) mit dem Titel „Die Geopolitik der Energietransformation“ stellt fest: „Die billigste Art, Energie zu transportieren, ist in Materialien und Produkten.“ [5] Und das habe Folgen für den Standort von Industrien, denn billiger Grünstrom schaffe „einen erheblichen Wettbewerbsvorteil für Regionen mit einem Überschuss an erneuerbaren Ressourcen, um zu Standorten der grünen Industrialisierung zu werden“.

Dieser Trend lässt sich bereits beobachten: Der südkoreanische Stahlkonzern Posco will 40 Milliarden US-Dollar in Australien investieren, um dort mittels Elektrolyse Wasserstoff zu produzieren und damit dann Eisenerz zu verhütten. [6] Australien ist dafür das ideale Land. Es verfügt nicht nur über Eisenerz, sondern auch über viel Platz für Solar- und Windkraftwerke. Michael Liebreich sieht das ähnlich: „Energieintensive Industrien werden unweigerlich in Regionen abwandern, wo saubere Energie billig ist. Magisches Denken hilft nicht gegen die Deindustrialisierung.“ [3] Aus Sicht der Irena-Studie ist diese Entwicklung hingegen nicht zwangsläufig: „Die Standortentscheidungen von morgen werden nicht auf einer leeren Landkarte getroffen, und sie hängen von mehr als nur billiger Energie ab. Bestehende Industriecluster sind wahrscheinlich resistent gegen Veränderungen und zeigen eine Pfadabhängigkeit.“ [5] Die aktuell geplanten Werke für Grünstahl befänden sich denn auch meist an traditionellen Stahlstandorten.

Trotzdem bleibt das Problem des Wasserstofftransports. Eine Studie des deutschen Thinktanks Agora Energiewende macht hier allerdings etwas Hoffnung: „Europa verfügt über ein ausreichendes Potenzial an grünem Wasserstoff, um seinen Bedarf zu decken, muss aber zwei Herausforderungen bewältigen: die Akzeptanz und den Standort der erneuerbaren Energien, da jedes Gigawatt Elektrolyse mit ein bis vier Gigawatt zusätzlicher erneuerbarer Energie einhergehen muss“, steht dort. Die Deindustrialisierung Deutschlands ist folglich nicht „unweigerlich“, wenn wir sie verhindern wollen und die Erneuerbaren massiv ausbauen.

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[1] Marxists, Stand 26.01.2023: Wealth of Nations

[2] The Economic Journal, April 2021: Coal and the European Industrial Revolution

[3] Michael Liebreich, 12.12.2022: The Unbearable Lightness of Hydrogen

[4] BMK, Dezember 2022: Importmöglichkeiten für erneuerbaren Wasserstoff

[5] Irena, 2022: Geopolitics of the Energy Transformation – The Hydrogen Factor (PDF)

[6] Hydrogen Central, 02.12.2022: POSCO Group to Invest US$40bn in Australia by 2040, Including Hydrogen for Steel Making

[7] Agora, Januar 2022: 12 Insights on Hydrogen (PDF)