Inkastraßen nützen den Menschen noch heute

Kulturelle Veränderungen entlang den Strassen haben sich bis heute gehalten

In der Entwicklungspolitik werden vorkoloniale Strukturen oft ignoriert. Dabei können diese auch 500 Jahre nach Ankunft der Europäer noch eine messbare Rolle spielen. Das trifft etwa auf die Straßen der Inkas zu. Diese haben extrem langlebige, kulturelle Veränderungen angestoßen.

Es klingt wie eine sozialistische Utopie: Ein Land ohne Geld und nennenswerte Privatwirtschaft, das dennoch riesige Bauwerke errichtet – mit unvorstellbar bescheidenen technologischen Mitteln. Denn das Rad war ebenfalls unbekannt und Zugtiere gab es auch keine. Die Rede ist vom Reich der Inkas in Südamerika. Diese errichteten nicht nur monumentale Bauten in ihrer Hauptstadt Cusco oder in der Bergfestung Machu Pichu sondern auch ein imposantes Straßennetz: Obwohl das Reich nur knapp hundert Jahre existierte umfasste das Straßennetz rund 40.000 Kilometer. Die längste Straße verlief in den Anden und reichte von Kolumbien, über Ecuador, Peru bis nach Santiago, der Hauptstadt Chiles. Eine zweite, etwas kürzere Straße verlief entlang der Küste und zwischen den beiden Hauptachsen gab es rund 20 Verbindungsstraßen.

Der spanische Konquistador und Historiker Pedro de Cieza de León schrieb über das Straßennetz: „Ich glaube, man hat noch nie von einer solchen Größe gelesen wie von dieser Straße, die durch tiefe Täler und hohe Gipfel, schneebedeckte Berge, Sümpfe, Felsen und an reißenden Flüssen entlang führte. An manchen Stellen war sie eben und gepflastert, an den Hängen abgestützt, bei Felsen durchtunnelt, an den Flüssen mit Mauern, im Schnee mit Stufen und Rastplätzen. Überall war sie sauber, gefegt, frei von Schutt, voller Siedlungen mit Lagern für wertvolle Güter, Sonnentempeln und Herbergen.“ [1] Die Straßen waren das Rückgrat des 5500 Kilometer langen Reiches: Sie dienten der Regierung dazu, Güter zu transportieren, mit Staffeln von Meldeläufern Nachrichten zu übermitteln und Truppen zu verlegen. Ironischerweise erlaubte das Straßennetz allerdings auch den Spaniern, das Reich schnell zu überwältigen nach ihrer Landung im Jahr 1532.

Haltbar. Teile der Inkastrassen lassen sich heute noch sehen. (Foto: Aga Khan (IT) / Wikipedia)
Haltbar. Teile der Inkastrassen lassen sich heute noch sehen. (Foto: Aga Khan (IT) / Wikipedia)

Knapp 500 Jahre später sind die Inkastraßen noch immer von Bedeutung – und das, obwohl nur noch rund 5000 Kilometer der ursprünglichen Stassen erhalten sind. Das zeigt eine sozio-ökonomische Studie zu den „Langfristigen Auswirkungen der Inka-Straße“ von Ana Paula Franco von der US-Universität Michigan. [2] Franco und ihre beiden Co-Autoren haben die Lebensverhältnisse der Menschen am peruanischen Abschnitt der Straße in den Anden analysiert. Dazu vergleichen sie Zensusdaten der peruanischen Regierung von Haushalten, die in einem 20 Kilometer breiten Streifen entlang der Straße leben und Haushalten, die weiter von der Straße entfernt liegen. Dabei zeigt sich, dass die Straße noch heute einen Effekt hat – unabhängig davon, ob sie überhaupt noch existiert: Wer nah an der Straße wohnt verdient im Schnitt 10,5 Prozent mehr. Davon profitieren insbesondere die Kinder: Sie gehen 22 Prozent oder 1,64 Jahre länger zur Schule als die Kinder der Kontrollgruppe. Zudem sind sie besser ernährt: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie für ihr Alter zu klein sind ist um acht Prozent geringer.

Einer der Gründe für diese Effekte ist die Stellung der Frauen in Haushalten nah an der (oft ehemaligen) Straße im Vergleich zu Frauen weiter weg. Nähe zu Straße erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen wichtige gesundheitliche Entscheidungen treffen um 5,2 Prozentpunkte und dass Frauen über größere Anschaffungen entscheiden um 5,4 Prozentpunkte. Das ist nicht zuletzt eine Folge des Systems der Fronarbeit, das die Spanier eingeführt hatten: Ein Siebtel der Männer jedes Dorfes musste in den Gold- und Silberbergwerken arbeiten. Viele Aktivitäten, die im Zusammenhang mit der Straße anfielen, wurden daher von Frauen wahrgenommen. Es waren daher oftmals Frauen, die mit Reisenden interagierten. So lernten sie spanisch und den Umgang mit dem neu eingeführten spanischen Geld. „In den Gemeinden in der Nähe der Inka-Straße war es üblich, dass die Frauen außerhalb des Hauses arbeiteten. Diese Art von kulturellen Mustern neigen dazu langlebig zu sein: Sie führen zu einfach zu befolgenden Faustregeln und sind daher schwer zu ändern“ schreiben Franco und ihre Co-Autoren. [2]

Ein weiterer Grund ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Haushalt „in den eigenen vier Wänden“ lebt. Vor Ankunft der Spanier gab es keinen Privatbesitz. Alles gehörte dem Staat respektive der Gemeinschaft. In abgelegen Dörfern blieb dieses System erhalten, doch nahe der Straße setze sich eher das spanische System von privatem Landbesitz durch. Zum einen war es lukrativ nah an der Straße zu leben, weil man mit Reisenden Handel treiben konnte. Daher wurden diese Grundstücke wertvoller. Nah der Straße ließen sich aber auch eher Spanier nieder. Das zeigt sich noch heute: Wer nah an der Straße wohnt, hat eine um knapp ein Drittel höhere Wahrscheinlichkeit, das Land offiziell zu besitzen, auf dem er wohnt. Das hat zur Folge, dass Menschen eher in ihr Haus und Land investieren. „Eigentumsrechte haben sich als wichtige Triebkräfte für wirtschaftliche Entwicklung und Armutsbekämpfung erwiesen.“ [2]

Letztlich sind es also die kulturellen Veränderungen, die von der Straße angestoßen wurden, die noch heute, knapp 500 Jahre nach dem Ende des Inkareichs, einen messbaren Effekt haben: die Stellung der Frauen in der Gesellschaft und die Eigentumsrechte. Die Bedeutung als wirtschaftsfördernde Infrastruktur dürfte die Straße aber an vielen Abschnitten verloren haben. Die Spanier verlegten die Hauptstadt nach Lima an die Küste und die hochgelegenen Gebiete in den Anden sind oft sehr dünn besiedelt. Doch trotz all dieser Umwälzungen „sind die vorkolonialen Institutionen für einen Großteil der Unterschiede in den derzeitigen Entwicklungsprozessen verantwortlich“. [2]

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[1] Pedro Cieza de León, 1553: El Señorío del Inca (siehe Wikipedia)

[2] Ana Paula Franco et al., 08.07.2021: Long-Term Effects of the Inca Road