Verlust der Artenvielfalt gefährdet letztlich auch Überleben der Menschheit
Jede einzelne Art hat eine Funktion im Gleichgewicht ihres Ökosystems. Verschwindet eine Art ist daher auch das Ökosystem weniger widerstandfähig.
„Das unentbehrliche Netz des Lebens auf der Erde wird kleiner und franst immer mehr aus.“ Dies sagte Professor Josef Settele einer der Leitautoren des ersten umfassenden Berichts zum Stand der Artenvielfalt seit 2005. Der Bericht zeigt, dass eine Million von geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten vom Austerben bedroht ist. „Dieser Verlust ist eine direkte Folge menschlicher Aktivität und stellt eine Gefahr für die Wohlfahrt der Menschen in allen Regionen der Welt dar“, so Settele. Der Bericht beruht auf über 15.000 wissenschaftlichen Studien, die vom Weltbiodiversitätsrat IPBES im Auftrag von über hundert Ländern der Welt ausgewetet wurden. Wie beim Weltklimarat IPCC wurde anschliessend die Zusammenfassung des 1800-Seiten Berichts von Regierungsvertretern ausgehandelt. Damit repräsentiert der Bericht nicht nur den wissenschaftlichen Konsens sondern auch den der Regierungen. Diese ermahnt die Chefin der UN-Kulturorganisation Unesco, Audrey Azoulay: „Die heutige Generation hat die Verantwortung, künftigen Generationen nicht einen Planeten zu vererben, der irreversibel geschädigt ist.“
Dabei sind die Schäden schon jetzt erheblich: 85 Pozent aller Feuchtgebiete, die Hälfte der Korallenriffe und knapp ein Drittel der Wälder sind verschwunden. Ein Viertel der Böden ist geschädigt und 93 Prozent aller Fischbestände sind überfischt oder werden maximal ausgebeutet. In den letzten 40 Jahren hat sich die Plastikverschmutzung verzehnfacht und 80 Prozent aller Abwässer fliessen ungeklärt in Flüsse und Meere. Das Plündern und Brandschatzen der Natur wird auch noch finanziell gefördert: Umweltschädliche Landwirtschaft wird in den Industriestaaten jährlich mit 100 Milliarden Dollar subventioniert und die Produktion von Kohle, Öl und Gas wird weltweit mit 345 Milliarden Dollar unterstützt. Letzteres führt zu Kosten für die Allgemeinheit von 5.000 Milliarden Dollar. Azoulay kommt denn auch zum Schluss: „Wir müssen anders auf der Erde leben“ ansonsten sei der „Fortbestand der Menschheit“ in Gefahr.
Der Grund für die Zerstörung sind das Wachstum der Weltbevölkerung und der Weltwirtschaft gekoppelt mit ressourcenintensiven Produktions- und Konsummustern. Seit 1970 hat sich die Zahl der Menschen verdoppelt und die globale Wirtschaftsleistung hat sich vervierfacht. Dies hat zur Urbarmachung riesiger Flächen, dem Verbrauch von immer mehr Bodenschätzen und Agrarrohstoffen, der Anreicherung von Treibhausgasen in der Atmosphäre und der Verschmutzung von Wasser, Luft und Böden geführt. Hinzu kommt die steigende Zahl invasiver Arten auf allen Kontinenten. Vor diesem Hintergrund ist wenig erstaunlich, dass die Welt ihre selbst gesetzten Ziele für den Schutz der Artenvielfalt verfehlt. Von den „Aichi Zielen“ für das Jahr 2020 sind die meisten unerreichbar und der Zustand der Natur erschwert oder verhindert die Erreichung vieler der Nachhaltigen Entwicklungsziele für das Jahr 2030. Eine Umkehr des Zerstörungstrends ist technisch und wirtschaftlich aber noch möglich: „Wenn wir sofort und simultan die verschiedenen indirekten und direkten Ursachen angehen, dann besteht das Potential den Verlust der Artenvielfalt und der Ökosysteme zu verlangsamen, zu stoppen und sogar rückgängig zu machen.“
Dazu seien aber ein „transformativer Wandel“ erforderlich, sagt Sir Robert Watson, der IPBES-Chef. Ein solcher Wandel bedeutet die „fundamentale, systemweite Reorganisation technologischer, wirtschaftlicher und sozialer Faktoren inklusive Paradigmen, Ziele und Werte“. Oder um es mit dem italienischen Autor Giuseppe Tomasi di Lampedusa zu sagen: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt wie es ist, muss sich alles ändern.“ Dass das nicht allen gefallen wird, ist auch dem IPBES klar. Watson sagt: „Transformativer Wandel kann Opposition erwarten von denen, die ein persönliches Interesse am Status Quo haben.“ Und dann macht Watson eine Prognose, die angesichts der Klimapolitik der meisten Länder gewagt klingt: „Diese Opposition kann überwunden werden für das öffentliche Interesse.“
Inwiefern das gelingt zeigt sich nächstes Jahr bei der Konferenz der UN-Biodiversitätskonvention, wo die Nachfolger der Aichi Ziele verabschiedet werden sollen. Dann müssen die Länder auch sagen, wieviel ihnen der globale Artenschutz wert ist. Die Umweltorganisation Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (Bund) fordert, dass die Bundesregierung ihren Beitrag verdreifacht. Bund-Chef Hubert Weiger sagt: „Die Länder, die durch ihre Art zu leben, entscheidend für das Artensterben verantwortlich sind, müssen dafür auch finanziell geradestehen.“ mic
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