Leitartikel: Ein Bericht verändert die Welt

20 Seiten dröger Text haben in nur zwei Monaten die Welt grundlegend verändert. Noch nie in der Geschichte der Menschheit hat ein Text so schnell einen tiefgreifenden Wandel im Denken herbeigeführt wie der Bericht des Weltklimarats IPCC zum 1,5-Grad-Ziel. Dieses Ziel steht im Pariser Klimaabkommen, das die Klimaerwärmung „deutlich unter zwei Grad“ stoppen soll und verspricht, dass die Länder „Anstrengungen unternehmen, um den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen“. Ob sich das lohnt und überhaupt möglich ist, war bei der Verabschiedung des Abkommens im Jahr 2015 aber noch unklar. Daher erteilten die Länder dem Weltklimarat den Auftrag, einen Sonderbericht zu erstellen.

Dieser zeigt,dass die Welt in zwölf Jahren radikal anders sein wird als heute. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die Menschheit beschliesst, die Klimaerwärmung tatsächlich bei 1,5 Grad zu stoppen. In diesem Fall muss sie die globalen Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 halbieren. Oder die Menschheit ignoriert den Bericht und senkt die Emissionen langsamer. Damit würde das 1,5-Grad-Ziel praktisch unerreichbar und die Erwärmung bestenfalls bei zwei Grad gestoppt. Das halbe Grad Unterschied entscheidet darüber, ob es noch Korallenriffe geben wird oder nicht. Es entscheidet, ob 1,8 Millionen Quadratkilometer Permafrost, die fünffache Fläche Deutschlands, auftauen oder nicht. Und es entscheidet darüber,wie oft der Nordpol im Sommer eisfrei ist: Einmal in zehn oder einmal in hundert Jahren?

Noch nie war die Dringlichkeit der Klimakrise (zwölf Jahre) und ihre Gefährlichkeit (Korallen Ja / Nein) so einfach verständlich. Damit entwickelte der Bericht in nur zwei Monaten eine spektakuläre Wucht: Er dient nun als Bezugsrahmen für das Denken und Handeln nahezu aller Entscheidungsträger. Dabei spielt keine Rolle, ob die Verhandler bei der Klimakonferenz in Katowice den Bericht schliesslich „Willkommen heissen“ oder nur „zur Kenntnis nehmen“ wie es die USA, Russland und Saudi Arabien gefordert haben. Denn auch diese Länder wissen, dass nicht die Klimaverhandlungen über die zukünftige Entwicklung entscheiden werden. Diese können bestenfalls einen Rahmen schaffen, der zu mehr Ehrgeiz beim Klimaschutz ermuntert. Entscheidend sind die Gesetze der Physik und das Handeln vor Ort.Länder, Städte und Unternehmen müssen sich am 1,5-Grad-Bericht ausrichten, wenn eine katastrophale Erwärmung noch verhindert werden soll. Und viele tun das auch – ohne auf das „Regelbuch“ zu warten: Mehr als drei Dutzend Länder(inklusive der EU), Städte rund um die Welt und Hunderte von Firmen haben mittlerweile angekündigt, ihre Emissionen bis zum Jahr 2050 auf Null zu senken.

Der Bericht dient aber nicht nur als Bezugsrahmen für die Klimapolitik und ihre naheliegendsten Komponenten wie Energie- oder Verkehrspolitik. Bei der diesjährigen Klimakonferenz genoss auch die globale Bodennutzung grosse Aufmerksamkeit. Ein Viertel aller Treibhausgasemissionen stammt aus der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelbedarf nimmt wegen der wachsenden Weltbevölkerung weiter zu. Gleichzeitig muss bis zur Hälfte des Planeten unter Schutz gestellt werden, um das aktuelle Massaker an Tier- und Pflanzenarten zustoppen. Ausserdem muss deutlich mehr Kohlenstoff in Böden und Wäldern gespeichert werden, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Dieses Trilemma zwingt zur Aufgabe weit verbreiteter Denkverbote, denn nur eine deutliche Steigerung der Erträge auf bestehenden Flächen ermöglicht den Erhalt von Arten und eine Ausdehnung der Wälder.

Der 1,5-Grad-Bericht hat so für enorme Klarheit und Radikalität im Denken gesorgt. Im Klein-Klein der täglichen Berichterstattung über die Klimakonferenz stehen noch die Differenzen im Vordergrund. Dabei wird übersehen, dass mittlerweile zwischen den Regierungen von armen und reichen Ländern, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft Konsens herrscht: Wir haben noch zwölf Jahre. mic

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