Ohne Einlenken der USA ist die Welthandelsorganisation WTO ab Dezember 2019 gelähmt
US-Präsident Donald Trump meint, die Welthandelsorganisation WTO nutze allen ausser den USA und droht implizit mit Austritt. Damit könnte er eine Reform der Institution anstossen oder diese zerstören.
Was ist die WTO?
Die WTO nahm am 1. Januar 1995 ihre Arbeit auf. Ihre Aufgabe ist die Umsetzung und Fortentwicklung von drei globalen Handelsverträgen: zu Gütern und Zöllen (Gatt), zu Dienstleistungen (Gats) und zu geistigem Eigentum (Trips). Das Ziel der WTO ist eine kontinuierliche Liberalisierung des Welthandels und die Beilegung von Handelsstreitigkeiten. Die WTO hat derzeit 164 Mitgliedsländer. Die grössten Nicht-Mitglieder sind Algerien, Iran, Irak, Äthiopien und Usbekistan. Die WTO deckt so über 90 Prozent des Welthandels ab. Die Organisation hat ihren Sitz in Genf und verfügt über ein Budget von rund 200 Millionen Schweizer Franken. Derzeit wird sie von dem Brasilianer Roberto Azevêdo geleitet.
Welche Aufgaben hat die WTO?
Die WTO hat drei Aufgaben: Erstens sollen im Rahmen der WTO neue, multilaterale Handelsverträge ausgehandelt werden. Zweitens betreibt die WTO ein Gericht, das bei Handelsstreitigkeiten bindende Urteile fällen kann. Und drittens überwacht die WTO generell die Einhaltung der Handelsregeln und erstellt Statistiken zum Welthandel.
Welche Regeln gelten für WTO-Mitglieder?
WTO-Mitglieder dürfen Zölle erheben. Wie hoch diese maximal sein dürfen, ist in der Beitrittsurkunde festgehalten. Ein WTO-Mitglied darf aber gegenüber anderen Mitgliedern nicht unterschiedliche Zölle erheben (Meistbegünstigungsklausel). Die EU kann daher ihren Zoll auf US-Autos nicht senken, ohne dies auch für Autos aus allen anderen Ländern zu tun. Die einzige Ausnahme sind bilaterale und regionale Freihandelsabkommen. Diese sind „WTO-konform“, wenn sie „nahezu den gesamten Handel“ umfassen. Grundsätzlich gilt zudem das Prinzip der Inländergleichbehandlung nach dem ausländische Firmen und Güter nicht schlechter gestellt werden dürfen als inländische.
Was sind die grössten Erfolge der WTO?
Die WTO schreibt sich zugute, dass sie weltweit hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreit hat, indem sie Ländern wie China ein exportorientiertes Entwicklungsmodell ermöglicht hat. In der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 hat sie zudem eine Zunahme des Protektionismus weitgehend verhindern können. Dadurch blieb der Weltwirtschaft eine „grosse Depression“ wie in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts erspart.
Wo stehen die WTO-Verhandlungen?
Der WTO hat seit ihrer Gründung nur ein einziges Handelsabkommen zum Abschluss bringen können: einen Vertrag zum Bürokratieabbau im Handel, das Trade Facilitation Agreement. Chancen auf einen Abschluss in den kommenden Jahren hat zudem ein Vertrag, der Subventionen für illegalen Fischfang verbieten soll. Alle anderen Kapitel der Doha-Verhandlungsrunde liegen de facto auf Eis. Aus Sicht der EU ist daran nicht zuletzt die binäre Unterscheidung in Industrie- und Entwicklungsländer Schuld. Letztere geniessen bei der Umsetzung neuer Regeln meist viel Flexibilität. Die EU schreibt in einem internen Papier der EU-Kommission von Anfang Juli: „Das System ist blockiert durch einen antiquierten Ansatz zu Flexibilität, der es zwei Dritteln aller Mitglieder erlaubt eine Sonderbehandlung zu verlangen. Dazu gehören die grössten und dynamischsten Volkswirtschaften der Welt.“ [1 s. S. 3]
Weil innerhalb der WTO kaum Fortschritte bei der Liberalisierung des Handels erzielt werden können, schliessen immer mehr Länder bilaterale oder regionale Freihandelsabkommen ab wie die Abkommen der EU mit Kanada, Mexiko und Japan oder das Transpazifische Partnerschaftsabkommen TPP mit elf Ländern rund um den Pazifik (ohne die USA).
Wie steht es um das WTO-Gericht?
Das WTO-Gericht gilt als „Kronjuwel“ der Organisation. Kein anderer völkerrechtlicher Vertrag hat eine bindende Gerichtsbarkeit. Das WTO-Gericht besteht aus zwei Instanzen: temporären Panels und einem permanenten Revisionsgericht. Letzteres hat normalerweise sieben Richter, braucht aber nur drei um ein gültiges Urteil zu fällen. Seit Antritt der Trump-Regierung weigern sich die USA, ausscheidende Richter durch neue zu ersetzen. Aktuell hat das Gericht noch vier Richter, im September fällt diese Zahl auf drei und im Dezember nächsten Jahres auf einen. Damit wäre das WTO-Gericht gelähmt und die Durchsetzung der WTO-Regeln „unmöglich“. Die EU warnt: „Dies käme einem Rückschritt um 20 Jahre gleich“, zu einem System, „wo Stärke Regeln als Basis der Handelsbeziehungen ersetzt.“ [1 s. S. 3]
Was kritisieren die USA am WTO-Gericht?
Zum einen kritisieren die USA einige Verfahrensregeln des Gerichts. Hier wäre die EU zu weitreichenden Zugeständnissen bereit, wie das EU-Memo zeigt. Voraussetzung wäre allerdings, dass die USA der Bennenung neuer Richter zustimmen. Zum anderen bezichtigen die USA das Gericht der Kompetenzanmassung: Die Richter würden die WTO-Verträge nicht nur interpretieren, sondern neues Recht setzen indem sie etwa Regelungslücken schliessen. Aus Sicht der USA müssten solche Lücken aber durch Verhandlungen unter den WTO-Mitgliedern geschlossen werden. Sie fordern daher, dass das Revisionsgericht bei solchen Lücken kein Urteil fällt und die Entscheidung an die WTO-Länder delegiert. Eine Studie des Peterson Instituts warnt allerdings: „Dieser Ansatz würde das aktuelle Verfahren der Streitbeilegung signifikant verändern, was die Verlässlichkeit des multilateralen Handelsregimes zu einem gewissen Grad unterminieren würde.“ [2 s. S. 9] Wie schnell eine Lücke durch Verhandlungen geschlossen werden kann, ist zudem unklar, schliesslich müssten alle 164 WTO-Länder einer Anpassung der Verträge zustimmen.
Welche Rolle spielt das WTO-Gericht bei den aktuellen Handelsstreitigkeiten?
Beim Streit um die US-Zölle auf Stahl und Aluminium haben bislang die EU, China, die Schweiz und fünf weitere Länder bei der WTO Klage gegen die USA eingereicht. Weil die EU, China, Kanada, Mexiko und die Türkei ausserdem Vergeltungszölle gegen US-Produkte eingeführt haben, wurden sie im Gegenzug von den USA verklagt. Noch wurde aber für keine dieser Klagen ein Panel gebildet, um darüber zu entscheiden. Der Fall ist problematisch, weil die USA behaupten, Stahl- und Aluminiumimporte gefährdeten die „nationale Sicherheit“. Falls dem so ist, wären die Zölle „WTO-konform“. Dennoch berufen sich Länder quasi nie auf diese Klausel in den WTO-Verträgen. Der Grund dafür ist einfach: Dadurch würde „ein Präzendenzfall geschaffen, den jeder und insbesondere die Chinesen gegen die USA nutzen könnten“, sagt Lee Branstetter von der US-Universität Carnegie Mellon. [3]
Beim Streit um den erzwungenen Technologietransfer nach China, haben bislang die USA und die EU Klagen gegen China eingereicht. Auch hier wurde noch kein Panel gebildet. Südkorea hat schliesslich eine Klage gegen die USA beim Streit um US-Schutzzölle auf Waschmaschinen und Solarpaneele angestrengt. Diese Zölle waren die erste offen protektionistische Massnahme der aktuellen US-Regierung.
Wie steht es um die Überwachung der Handelsregeln durch die WTO?
Ein grosser Teil der gut 600 WTO-Mitabeiter kümmert sich weder um die Verhandlungen noch um die Streitbeilegung sondern um die alltägliche Überwachung der Handelsregeln. So müssen Länder die WTO informieren, wenn sie handelsrelevante Gesetze ändern oder etwa Subventionen einführen. Dies täten aber nicht alle, beklagt die EU: „Mehrere unserer Top-Handelspartner erfüllen ihre Notifizierungspflichten nicht ausreichend.“ [1 s. S. 10] Daher will die EU dem System zu mehr Biss verhelfen und Länder an den Pranger stellen, die ihre Informationspflichten vernachlässigen.
Welche Schwächen haben die bestehenden Handelsregeln?
Die WTO-Verträge sind mittlerweile 23 Jahre alt. Die EU schreibt daher: „Die Welt hat sich seit 1995 verändert, die WTO aber nicht.“ [1 s. S. 3] Dabei geht es zum einen um die WTO-Struktur, die noch immer nur zwischen Industrie- und Entwicklungsländern unterscheidet. Zum anderen hat sich aber auch die Weltwirtschaft entwickelt etwa durch Internet basierten Handel von Gütern und Dienstleistungen. Schliesslich hat der WTO-Beitritt von China im Jahr 2001 und dessen Wachstum und Wirtschaftspolitik Schwächen in den WTO-Verträgen aufgezeigt. Die EU kritisiert etwa zinsgünstige Kredite von Staatsbanken, den geschlossenen Bankensektor oder den erzwungenen Transfer Produktions-Know-How.
Was passiert, wenn die WTO verschwindet?
Die kurze Antwort lautet: Die durchschnittlichen Zölle steigen von heute 3 Prozent auf 35 Prozent also um mehr als das Zehnfache. Das ist das Ergebnis einer aktuelle Studie von Alessandro Nicita, einem Ökonomen bei der UN-Handels- und Entwicklungskonferenz Unctad. [4] Die Zölle würden aber für die Exporteure verschiedener Länder unterschiedlich stark steigen. Besonders schlecht erginge es mexikanischen Exporteuren, die einen Zollanstieg um 60 Prozentpunkte zu verkraften hätten. [5] Besser erginge es den USA (plus 27 Prozentpunkte), der EU (plus 32 Prozentpunkte) und China (plus 36 Prozentpunkte). Der Grund für die Unterschiede ist die Marktmacht der Länder gegenüber ihren Handelspartnern sowie die Zusammensetzung der eigenen Exporte und deren Destination. Trotz der Unterschiede schreibt Nicita: „Am Schluss sieht sich jeder viel höheren Zöllen und viel kleineren Märkten gegenüber.“ [6]
Können die USA aus der WTO austreten?
Ja, mit einer Kündigungsfrist von sechs Monaten. Unklar ist aber, ob Trump das alleine entscheiden kann oder ob das US-Parlament dem zustimmen müsste. [7] Letzteres gilt derzeit noch als ausgeschlossen.
Welche Kritikpunkte gibt es an der WTO ausser denen der US-Regierung?
Manche Umwelt- und Entwicklungsorganisationen kritisieren, dass die WTO ihren Belangen zuwenig Beachtung schenkt. Hier sieht die EU ebenfalls Handlungsbedarf: „Die EU sollte die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) analysieren und Wege finden, wie die Handelspolitik zu deren Erreichung beitragen kann.“ [1 s. S. 7] Ende des letzten Jahrhunderts war die WTO zudem der Lieblingsgegner der „Globalisierungskritiker“. Beim WTO-Ministertreffen im Jahr 1999 in Seattle kam es zu Ausschreitungen und das Treffen konnte nicht wie geplant stattfinden.
In Kürze, wie schlecht steht es um die WTO und das multilaterale Handelssystem?
Aus Sicht der EU: Sehr schlecht. Die EU schreibt: „Das multilaterale Handelssystem sieht sich der schwersten Krise seit dessen Gründung gegenüber.“ [1 s. S. 3] Schlimmer noch: „Die Krise wird sich in den kommenden Monaten weiter vertiefen.“ Doch die EU gibt noch nicht auf: Der Niedergang des multilateralen Handelssystem müsse „um jeden Preis“ verhindert werden. Diese Formulierung erinnert an eine Aussage von EZB-Chef Mario Draghi. Zum Höhepunkt der Eurokrise sagte dieser, die EZB werde tun „was immer es braucht“, um den Euro zusammenzuhalten, was bekanntlich gelang. Im Fall der WTO und der multilateralen Handelsordnung könnte aber auch ein Diktum des bulgarischen Philosophen Ivan Krastev gelten. Dieser warnte: Die EU könne „zum Beschützer eines Status Quo werden, der nicht mehr existiert.“ [8] Sollte er Recht behalten, wird es in die Geschichtsbücher eingehen.
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[1] EU-Kommission, 05.07.2018: WTO – EU- proposals on WTO modernisation (PDF) (Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Seiten dieses Dokuments.)
[4] Journal of Political Economy, Juni 2018: Cooperation in WTO’s Tariff Waters?
[5] Unctad, 25.04.2018: Nobody really wins a trade war
[6] CEPR, 05.04.2018: A trade war will increase average tariffs by 32 percentage points
[7] VOX, 26.10.2017: We asked 6 experts if Congress could stop Trump from eliminating NAFTA
[8] New York Times, 11.07.2018: Sorry, NATO. Trump Doesn’t Believe in Allies.