Warum die EU die Regeln für den Weltmarkt setzt
Die Regulierung des EU-Binnenmarkts hat einen überraschenden Nebeneffekt: Oft setzen sich die EU-Normen weltweit durch. Dieser ‚Brüssel-Effekt‘ ist ein potentes Machtmittel Europas, da es unilateral und mit minimalen Kosten eingesetzt werden kann.
Das Selbstbewusstsein der EU ist in den letzten Wochen merklich gestiegen. Im Vorfeld des G20-Gipfels erklärten die beiden EU-Präsidenten Jean-Claude Juncker und Donald Tusk etwa: Die EU sei zum „Referenzpunkt“ geworden für „Demokratie und Menschenrechte, freien und fairen Handel und für konkrete Massnahmen angesichts globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel“. [1] Zumindest in Bezug auf Handel ist die EU aber schon länger der „Referenzpunkt“. Im Jahr 2013 als noch kein Ende der Euro-Krise absehbar war, veröffentlichte die Rechtswissenschaftlerin Anu Bradford von der US-Universität Columbia einen Artikel mit dem provokanten Titel „Der Brüssel-Effekt: Der Aufstieg eines regulatorischen Superstaats in Europa“. [2]
Die Grundüberlegung des ‚Brüssel-Effekts‘ ist simpel: Weil es für multinationale Konzerne zu kompliziert ist, Produkte nach unterschiedlichen Standards herzustellen, halten sie sich einfach an den striktesten Standard und das ist meist der EU-Standard. Denn auf den EU-Markt kann kaum ein Grosskonzern verzichten. Der EU-Markt ist zwar etwas kleiner als der US-Markt aber viel offener. Die EU ist Export- und Importweltmeister sowohl bei Gütern als auch bei Dienstleistungen. EU-Standards gehören daher auch in den USA zum Alltag: „Wenigen Amerikanern ist bewusst, dass EU-Vorschriften über die Kosmetika bestimmen, die sie benutzen, über das Müsli, das sie zum Frühstück essen und über ihre Facebook-Einstellungen zum Schutz der Privatsphäre. Und all das vor neun Uhr morgens“, sagt Anu Bradford. [2 s. S. 3]
Dank des ‚Brüssel-Effekts‘ ist die EU folglich in der Lage „internationale Märkte unilateral zu regulieren“. [2] Ausserhalb der EU müssten sich Konzerne nicht an EU-Regeln halten, aber sie tun es trotzdem. Damit ist de EU in der Lage ihr Recht zu „externalisieren“ und so globale Standards zu setzen. [2] Dieses Phänomen bezeichnet Bradford als „unilaterale, regulatorische Globalisierung“. [2] Diese läuft in zwei Schritten ab. Erst halten sich Grosskonzerne freiwillig an EU-Regeln. Das ist der „de facto Brüssel-Effekt“. Anschliessend setzen sie sich in anderen Ländern dafür ein, die EU-Regeln ebenfalls zum offiziellen Standard zu erklären, um zu verhindern, dass lokale Konkurrenten einen Wettbewerbsvorteil haben – der „de iure Brüssel-Effekt“. [2 s. S. 6]
Es war nicht immer der Fall, dass die EU die strengsten Regeln setzt. Bis in die 80’er Jahre waren die US-Vorschriften zum Verbraucher- und Umweltschutz strenger als diesseits des Atlantiks. Doch seither haben die EU und die USA die Plätze getauscht. Der Grund dafür ist kulturell: In den USA herrscht die Angst vor Überregulierung, während in Europa eher die Angst vor Unterregulierung die Normsetzung bestimmt. Zum Ausdruck kommt dies beim ‚Vorsorgeprinzip‘: In den USA muss nachgewiesen werden, dass ein Produkt schädlich ist, damit es vom Markt genommen wird. In der EU hingegen muss erwiesen sein, dass ein Produkt unbedenklich ist, bevor es überhaupt auf den Markt kommen darf.
Das Paradebeispiel sind hier Chemikalien. Im Jahr 2007 verordnete die EU, dass für alle chemischen Stoffe, die in der EU verkauft werden, eine Unbedenklichkeitsnachweis vorliegen muss (REACH Verordnung). Der Aufschrei in der Industrie beidseits des Atlantiks war gross. Doch nun sind alle Chemikalien zertifiziert und auch Firmen wie der US-Chemiekonzern Dow halten sich weltweit an REACH. Noch erfolgreicher war die EU-Verordnung über gefährliche Substanzen. Diese wurde von China, Japan, Südkorea und dem US-Bundesstaate Kalifornien weitgehend übernommen. Bei der EU-Verordnung über Elektronschrott ging Kalifornien sogar noch weiter: Was in der EU verboten ist, ist auch dort verboten. Damit hat Kalifornien die Regulierung dieses Bereichs quasi an die EU outgesourced und übernimmt auch zukünftige Änderungen automatisch.
Einen ähnlichen Einfluss hat die EU beim Wettbewerbsrecht. Wenn zwei internationale Konzerne fusionieren wollen, ist meist die Entscheidung der EU-Kartellwächter entscheidend. Diese haben etwa die Übernahme von Honeywell durch General Electric untersagt – zwei US-Konzerne. Auch Konzerne wie Microsoft oder jüngst Google fürchten primär die EU. Was in den USA noch als fairer Wettbewerb gilt, wird von Brüssel als Missbrauch von Marktmacht geahndet. Auch beim Datenschutz hat die EU striktere Regeln als die USA und setzt damit den globalen Standard. Für Konzerne wie Facebook wäre es unpraktisch unterschiedliche Standards in der EU und im Rest der Welt zu nutzen. Ausserdem haben mittlerweile über 30 Länder Regeln eingeführt, die sich am EU-Vorbild orientieren. Die Bedeutung von Brüssel bei der Internetregulierung kann man auch am Lobbyaufwand der Konzerne ablesen. Google etwa hat seine Anstrengungen innert drei Jahre mehr als verdreifacht. Karen Massin, die Chefin des Brüsselbüros der US-Beratungsfirma Burson Marsteller, sagte gegenüber Politico: „Es ist keine Überraschung, dass Tech-Firmen aller Grössen auf Europa fokussiert sind, zu einer Zeit, wo es unwahrscheinlich ist, dass neue Gesetze zu Technologie in den USA verabschiedet werden.“ [3]
In all diesen Fällen reicht es, wenn die EU ihre Binnenmarkt reguliert und Marktkräfte sorgen dann dafür, dass sich Firmen auch in anderen Ländern an EU-Regeln halten. Gelegentlich greift die EU aber auch direkt in ausländische Gesetzgebung ein. Dies ist etwa bei Fisch der Fall. Die EU will verhindern, dass illegal gefangener Fisch auf europäischen Tellern landet. Dazu bewertet sie die Fischereipolitik von Drittstaaten und verteilt grüne, gelbe und rote Karten. Thailand hat vor zwei Jahren die gelbe Karte bekommen und versucht nun verzweifelt, seine Fischereiindustrie auf Vordermann zu bringen. Die EU ist der grösste Fischimporteur der Welt und bezieht allein aus Thailand Meeresfrüchte im Wert von gut 600 Millionen Dollar. Thailands Militärdiktator Prayut Chan-o-cha bat Brüssel denn auch um „Gnade“ und erklärte: Die EU „ist eine Weltorganisation, die nur einen einzigen Standard kennt und da wir diesen Standard verletzt haben, müssen wir akzeptieren, dass wir einen Fehler gemacht haben.“ [4] Seither wurden Dutzende von Gesetzen geändert. Fischerboote wurden registriert und bekamen Fangquoten und Peilsender. Noch ist die EU aber nicht zufrieden und Thailand hat immer noch gelb.
Der ‚Brüssel-Effekt‘ wirkt aber nicht nur in Südostasien, sondern auch nördlich des Ärmelkanals wird man sich dieses Phänomens bewusst. Vor dem Brexit-Referendum hatten dessen Befürworter versprochen, durch den EU-Austritt würde die Wirtschaft von der Brüsseler Überregulierung befreit. Doch nun stellt sich heraus, dass Teile der Wirtschaft gar nicht befreit werden will. [5] Das gilt etwa für REACH. Der britische Verband der Autohersteller (Society of Motor Manufacturers and Traders) liess das Unterhaus wissen: „Unterschiedliche Regulierung (in der EU und in Grossbritannien) sollte von Anfang an vermieden werden. Es ist entscheidend, dass Grossbritannien den Entscheidungen zur Evaluation (von Chemikalien) und der anschliessenden Autorisierung durch die EU folgt.“ [6] Anu Bradford sagt denn auch: „Die Idee von Freiheit nach dem Brexit ist eine Illusion. In der Realität werden EU-Regeln weiter die Wirtschaft in Grossbritannien bestimmen, während London törichterweise jede Rolle bei der Ausarbeitung dieser Regeln aufgibt.“ [7] Matthew Bishop von der Universität Sheffield warnt derweil: „Das Freudenfeuer mit EU-Verordnungen von dem die Brexit-Anhänger fantasieren, wird den Handel unterminieren und nicht vereinfachen. Um es ganz einfach auszudrücken: Wenn du die Verordnungen los wirst, dann bist du auch das Recht los, dabei zu sein.“ [8]
Meist ist die exterritoriale Wirkung des EU-Rechts eine unbeabsichtigte Folge der Regulierung des Binnenmarkts. Wie das Beispiel Fisch zeigt, setzt die EU manchmal ihre Marktmacht aber auch bewusst ein, um Änderungen in anderen Ländern herbeizuführen. Die EU ist sich allerdings durchaus bewusst, dass ihre Möglichkeit, unilateral internationale Standards zu setzen, auch zum Nutzen der europäischen Wirtschaft genutzt werden kann. Das hat sich bei der Publikation des Berichts „Ein strategischer Blick auf europäische Standards“ im Jahr 2011 gezeigt. Der damalige Vizepräsident der EU-Kommission und heutige Präsident des EU-Parlaments, Antonio Tajani, sagte dort: „Es ist wichtig gute Standards in Europa zu haben, um die internationalen Aktivitäten unserer Unternehmen zu unterstützen.“ Dazu „müssen wir dafür sorgen, dass unsere Standards auch ausserhalb der EU akzeptiert werden.“ [9] Die aktuelle Handelskommissarin Cecilia Malmström setzt sich ebenfalls für den Export von EU-Normen ein: „Handel ist eine Kraft für das Gute in der Welt – ein Mittel um unsere Werte und Standards zu unterstützen und weltweit zu verbreiten.“ [10]
Der ‚Brüssel-Effekt‘ wirkt allerdings nicht in allen Bereichen gleich stark. Besonders stark ist er bei Konsumgütern, da die wenigsten europäische Konsumenten die Möglichkeit haben, ausserhalb des EU-Binnenmarkts einkaufen zu gehen. Anders sieht es bei der Regulierung der Finanzmärkte aus. Geld kann leicht ins EU-Ausland verschoben werden, wenn dort die regulatorischen Anforderungen oder die Steuern niedriger sind. Aus diesem Grund hat der Steuerwettbewerb die Tendenz, für niedrigere Steuern zu sorgen (race to the bottom). Bei Gütern ist es dank des ‚Brüssel-Effekts‘ dafür genau umgekehrt. Hier setzt sich die strengste Regulierung durch (race to the top). Dies zeigt sich etwa innerhalb der USA. Dort sorgt der ‚Delaware-Effekt‘ für sinkende Steuersätze und der ‚Kalifornien-Effekt‘ für bessere Produktstandards.
Wenn ‚Macht‘ die Fähigkeit ist das Verhalten anderer zu beeinflussen, dann fällt der EU durch den ‚Brüssel-Effekt‘ Macht zu. Für Bradford liegt diese zwischen den herkömmlichen Kategorien von Macht, also zwischen ‚hard power‘ (Militär, Geld) und ‚soft power‘ (Attraktivität), da die Globalisierung der EU-Normen weder durch Zwang noch durch ihren Vorbildchrakter erfolgt. Für multinationale Unternehmen ist es schlicht praktischer EU-konforme Lieferketten zu haben als unterschiedlichen Standards zu verwenden. Aus Sicht von Bradford hat der ‚Brüssel-Effekt‘ als Machtmittel drei – aus EU Sicht positive – Eigenschaften: Die regulatorische Macht der EU sei „dauerhafter, leichter einsetzbar und von anderen weniger einfach zu unterminieren“ als militärische Gewalt oder finanzielle Anreize wie Entwicklungshilfe oder Wirtschaftssanktionen. [2] Hinzu kommt, dass der ‚Brüssel-Effekt‘ als Machtmittel ausgesprochen günstig ist. Da die EU die Regeln unilateral setzt und diese dann durch Marktkräfte verbreitet werden, sind keine langwierigen Verhandlungen mit anderen Ländern erforderlich. Auch muss die EU ausserhalb des Binnenmarkts die Einhaltung der Normen nicht kontrollieren. Das tun die Konzerne von sich aus und auf eigene Kosten. Bradford schreibt daher: „In der Abwesenheit von traditionellen Möglichkeiten eines Staates wie Steuern zu erheben und Kriege zu führen, hat die EU-Kommission eine Imperium aus Gesetzen und Verordnungen geschaffen.“ [2] Diesem könne sich auch die offizielle Supermacht nicht entziehen, hofft Bradford: „Der Brüssel-Effekt kann einen Teil der Bemühungen in den USA kompensieren, Verordnungen abzuschaffen.“
In einem sehr viel breiteren Essay über die Macht Europas kommt der Politikwissenschaftler Andrew Moravcsik von der US-Universität Princeton zum Schluss: „Europa ist die ‚unsichtbare Supermacht‘ in der aktuellen Weltpolitik.“ [11] Dank des ‚Brüssel-Effekts‘ ist das wohl wahr – zumindest in Bezug auf Kosmetika, Müsli und Facebook Einstellungen. mic
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[2] Northwestern University Law Review, 2012: The Brussels Effect (PDF)
[3] Politico, 04.05.2017: Silicon Valley tech lobbyists swarm Brussels
[4] Weltinnenpolitik, 27.05.2015: ‚Gelbe Karte‘ der EU führt zu Revolution in Thailands Fischereipolitik
[5] FT, 12.07.2017: Why the ‘Brussels effect’ will undermine Brexit regulatory push
[7] Anu Bradford in HuffPost, 23.06.2016: Brexit Will Not Liberate The U.K. From The EU
[8] Matthew Bishop auf Speri, 16001.2017: Brexit and free trade fallacies Part Two
[10] Cecilia Malmström bei Greugel, 24.01.2017: The future of EU trade policy (PDF)