Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum drohen das Erdsystem über Kipppunkte zu stossen
20 Jahre nach dem Erdgipfel in Rio de Janeiro, Brasilien, findet dort erneut eine UN Konferenz über Nachhaltige Entwicklung statt, Rio+20. Dort muss die Menschheit einen Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie finden, denn die globale Umwelt nähert sich gefährlichen Kipppunkten.
„Biologisch wird es dann eine neue Welt sein“ sagt Anthony Barnosky, Professor an der US Universität Berkeley, im Hinblick auf einen nahenden Kipppunkt in der Biosphäre der Erde. [1] Diese Kipppunkte markieren den Übergang von einem natürlichen Gleichgewicht zu einem anderen. So kann etwa ein See umkippen, wenn zuviel Phosphatdünger ins Wasser gelangt und das Algenwachstum explodiert. Durch den daraus resultierenden Sauerstoffmangel sterben die Fische. Anschliessend ist der See in einem neuen Gleichgewicht. Solche Kipppunkte gibt es auch für das gesamte „Erdsystem“, die globale Umwelt. Barnosky befürchtet, dass bei der Landnutzung ein derartiger Kipppunkt demnächst erreicht werden könnte: Die sieben Milliarden Menschen auf der Erde nutzen 43 Prozent der Landmasse für Städte, Landwirtschaft und Infrastruktur und die Weltbevölkerung wächst weiter: auf neun Milliarden Menschen im Jahr 2050. Dadurch nimmt der Flächenverbrauch weiter zu. Schon in 13 Jahren wird die Hälfte der Erde von Feldern, Häusern und Strassen bedeckt sein. Und genau dort, bei der 50 Prozent Marke vermutet Barnosky den Kipppunkt: „Kann es wirklich passieren? Wenn wir in die Vergangenheit schauen, sehen wir: Ja, es kann wirklich passieren. Der letzte Übergang von einer Eis- zu einer Zwischeneiszeit vor 11 700 Jahren ist ein Beispiel dafür. Die Artenvielfalt hat sich immer noch nicht vom damaligen Massenaussterben erholt. Ich denke, wenn wir die unerfreulichsten Überraschungen vermeiden wollen, dann sollten wir uns von der 50 Prozent Marke entfernt halten.“ [1]
Dass sich das Erdsystem den ersten Kipppunkten nähert, ist Folge von zwei Triebkräften: dem Bevölkerungs- und dem Wirtschaftswachstum. Im 20. Jahrhundert hat sich die Weltbevölkerung vervierfacht und die Wirtschaftsleistung ist um das 20-fache gestiegen. Das UN Umweltprogramm Unep spricht in seinem Geo5 Bericht von „der grossen Beschleunigung“, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu diesem exponentiellen Wachstum bei der Weltbevölkerung und der Weltwirtschaft geführt hat. [2] Doch weder das Denken der Menschen noch die Konsum- und Produktionsmuster konnten mit dieser rasanten Entwicklung Schritt halten. So entspricht heute der Verbrauch an Rohstoffen von 60 Milliarden Tonnen pro Jahr, der weltweiten Produktion an Biomasse durch Pflanzen. Nachdem sich der Mensch über Jahrtausende der Natur erwehren musste, ist er nun plötzlich in der Situation, wo er diese – um seiner selbst willen – schützen muss. Aus Sicht des Atmosphärenchemikers Paul Crutzen hat damit ein neues Erdzeitalter begonnen: das Anthropozän (von griechisch „anthropos“ = der Mensch).
Bei der UN Konferenz über Nachhaltige Entwicklung, Rio+20, geht es also schlicht darum, Regeln für das Anthropozän aufzustellen. Denn nicht nur der Artenvielfalt droht ein Kipppunkt, sondern auch dem Klima und dem Leben in den Ozeanen. Doch bei der heute (Mittwoch) beginnenden letzten Runde der Vorverhandlungen, kommt erschwerend hinzu, dass der Wohlstand auf der Welt ungleich verteilt ist: Drei Viertel der Menschheit lebt in Armut [3] und knapp eine Milliarde Menschen leiden Hunger. Aus diesem Grund ist ein Verzicht auf Wachstum weder politisch durchsetzbar noch ethisch vertretbar. Die Regeln für das Anthropozän müssen daher nicht nur die Umwelt schützen, sondern weiteres Wachstum ermöglichen. Dabei bleibt nur noch wenig Zeit: Mit den Fabriken und Kraftwerken, die in den nächsten fünf Jahren gebaut werden, schöpft die Menschheit ihr verbleibendes CO2 Budget aus, wenn sie die Klimaerwärmung auf zwei Grad beschränken will. Die grosse Beschleunigung stellt die Menschheit also vor eine Wahl, die mit einem Blick in die Zukunft vielleicht leichter zu treffen ist, wie Paul Crutzen vorschlägt: „Stellen wir uns unsere Nachfahren im Jahr 2200 vor. Diese könnten uns mit Barbaren vergleichen, die ihr eigenes Heim plündern. Um dem Anthropozän gerecht zu werden, müssen wir aber eine Kultur aufbauen, die mit dem biologischen Reichtum der Erde wächst statt diesen aufzuzehren. In dieser neuen Zeit sind wir die Natur.“ [2] mic
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[2] UNEP, 2012: Global Envoronmental Outlook 5 aka Geo5
[3] OECD, 2010: The Emerging Middle Class in Developing Countries