Die Herabstufung der US Kreditwürdigkeit markiert den Übergang zu einer multipolaren Weltordnung
Früher liess sich die Welt bequem in zwei Gruppen einteilen: „the west and the rest“. Doch seit 2008 macht „der Rest“ mehr als die Hälfte der weltweiten Wertschöpfung aus. Die Dominanz des Westens ist gebrochen und es bildet sich eine multipolare Weltordnung heraus.
London brennt. Frankreichs Kreditwürdigkeit wird angezweifelt. Und in den USA dominieren Tee trinkende Extremisten die politische Agenda. Gleichzeitig erschüttert eine Demokratiebewegung die Diktaturen in den arabischen Ländern und in Israel demonstrieren Hunderttausende gegen die zunehmende Ungleichheit. Und auf der anderen Seite der Welt hat soeben China seinen ersten Flugzeugträger vom Stapel gelassen. Die Welt erlebt einen Fieberschub. Wie schlecht es um den Patienten steht ermisst sich aber nicht an der Höhe der Körpertemperatur sondern an der Tiefe der Börsenkurse.
Die Finanzmärkte übernehmen damit die Aufgabe die früher Intellektuellen und Künstlern zufiel: Brüche in der Wirklichkeit aufzuzeigen. Und der Bruch den die Finanzmärkte versuchen einzupreisen, ist tatsächlich eine historische Zäsur: das Ende der westlichen Dominanz. Das sichtbarste Zeichen für diese Zeitenwende ist die Herabstufung der USA durch die Ratingangentur Standard & Poor’s. Trotz der Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 lässt sich dieser Schritt nicht durch die wirtschaftlichen Fundamentaldaten der USA rechtfertigen. Die Ratingagentur misstraut vielmehr dem politischen System der USA. Denn die eigentliche Sicherheit für US Staatsanleihen ist die Möglichkeit der US Regierung Steuern zu erheben und wenn nötig zu erhöhen. Doch mit dem Erstarken der Tea Party ist es zunehmend zweifelhaft, ob die USA zu Steuererhöhungen in der Lage sind. Damit ist die Sicherheit der US Anleihen in Frage gestellt, wie auch der Status des US Dollars als weltweite Reservewährung. Denn eine Reservewährung muss unter anderem einen liquiden Markt an bombensicheren Staatsanleihen bieten, in den sich Anleger zurückziehen können, wenn andernorts Turbulenzen drohen. Indem die Tea Party die Sicherheit von US Staatsanleihen als zweifelhaft erscheinen lässt, unterminiert sie somit auch die Rolle des US Dollars als Reservewährung.
Doch natürlich ist es nicht die Tea Party, die der Dominanz des Westens ein Ende bereitet. Diese Dominanz war vielmehr eine historische Anomalie. Bis 1820 haben Indien und China gemeinsam rund die Hälfte der weltweiten Wertschöpfung ausgemacht. Doch dann kam die industrielle Revolution und der Aufstieg des Westens (siehe Grafik). China hat 1962 mit einem Anteil von vier Prozent am Welt-Bruttoninlandprodukt BIP den Tiefpunkt erreicht und Indien 1979 mit einem Anteil von gar nur drei Prozent. Die Bewohner der westlichen Industriestaaten hingegen konnten sich über einen Anteil von rund 60 Prozent freuen, obwohl nur rund 20 Prozent der Menschheit im Westen zu Hause war. Diese Anomalie in der Wirtschaftsgeschichte geht nun zu Ende. Während früher die Welt in zwei Gruppen eingeteilt werden konnte, „the west and the rest“, reicht heute diese simple Zweiteilung nicht mehr: nach Berechnungen des Economist erwirtschaftet „der Rest“ seit 2008 mehr als die Hälfte des kaufkraftbereinigten Welt-BIPs. Die Dominanz des Westens ist gebrochen.
Diese Verschiebung im wirtschaftlichen Kräfteverhältnis ist aber nicht nur für Wirtschaftshistoriker von Interesse, sondern ist auch politisch und geostrategisch relevant. An Stelle der unipolaren Weltordnung bildet sich nun eine multipolare Ordnung heraus. Und dieser Umbruch zeigt sich nicht nur in der Wirtschaft. Strukturen, die sich in der Folge des Zweiten Weltkrieges und während des Kalten Krieges gebildet haben, fallen in sich zusammen, wie in Tunesien, Ägypten, Libyen und Syrien. Die Länder Afrikas haben bei Auslandsinvestitionen mit China plötzlich eine Alternative zu ihren ehemaligen Kolonialherren. Und Europa sorgt sich, wie lange es noch auf die Sicherheitsgarantie durch die USA vertrauen kann. Denn diese muss sich zunehmend auf den Pazifik konzentrieren, wo China seine Nachbarn mit stetiger Aufrüstung und weitreichenden Gebietsforderungen im südchinesischen Meer verängstigt. Hier zeigt sich, dass eine Welt mit mehreren Grossmächten nicht unbedingt eine bessere ist. Dies gilt umso mehr, wenn natürliche Ressourcen wie Nahrung, Wasser oder Rohstoffe knapp werden und die verschiedenen Grossmächte darum konkurrieren.
Der politische und wirtschaftliche Fieberschub dieser Tage ist also weder die Krankheit selbst noch deren Ursache, sondern nur ein Symptom einer tieferliegenden Entwicklung – dem Übergang von einer unipolaren zu einer multipolaren Weltordnung. Ob sich dabei das französiche Sprichwort „Plus on est de fous, plus on rit.” (Je mehr Verrückte wir sind, desto mehr wird gelacht.) bewahrheitet, ist allerdings fraglich. mic
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