Die verhängnisvolle Jagd nach dem Immermehr

Weshalb das Wirtschaftswachstum mit knapper werdendem Erdöl wahrscheinlich zu einem Auslaufmodell wird

Gastbeitrag von Robert Bösiger

Wenn Airlines in die Knie gezwungen werden. Wenn es in Staaten Revolten gibt gegen hohe Benzinpreise. Wenn Löhne stagnieren oder sinken, obwohl die Preise für Heizöl, Strom und Lebensmittel ständig steigen. Wenn Weltmächte Kriege führen für Öl und Rohstoffe. Wenn plötzlich Abermillionen Menschen mehr von Hunger und Tod bedroht sind als noch vor einem Jahr, weil der Ölpreis immer höher klettert trotz Beteuerungen einzelner Erdöl produzierender Staaten, die Förderung zu erhöhen. Wenn der Güterverkehr dem unausweichlichen Kollaps entgegen braust, die Effizienz- und Produktivitätsgewinne abnehmen und die Sozialwerke wegen der demografischen Entwicklung immer mehr kosten. Wenn der weltweite Energiehunger ständig grösser wird, obwohl es mit jedem Tag weniger gelingt, diesen Durst zu stillen. Wenn die CO?-Konzentration schneller wächst und das ewige Eis rascher schmilzt als befürchtet. Dann sollte es uns dämmern. Dass wir die Grenzen des Wachstums erreicht haben. Dass das Allheilmittel, das vergötterte Wirtschaftswachstum, auf Dauer nicht mehr funktioniert. Dann sollten wir uns fragen: Mündet die Exponenzialkurve, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer steiler angestiegen ist, in einer Katastrophe? Ist es möglich, dass uns das Wachstum an Erdenbewohnern, Autos, Häusern, Produkten, Abfall, Strom- und Energieverbrauch auf diesem Planeten das Genick bricht? Und: Müssten wir, um unsere natürlichen Lebensgrundlagen nicht zu zerstören, den Energie- und Ressourcenverbrauch nicht doch auf einem verträglicheren Niveau stabilisieren? Hiesse dies vielleicht sogar, dass unsere Wirtschaft nicht nur nicht mehr quantitativ wachsen darf, sondern schrumpfen müsste? Wachsen? Solche Fragen sind unbeliebt in einer globalisierten Wirtschaftswelt, die – angetrieben von Energie, Geld und Wachstumsgläubigkeit – den Wohlstand vermehren, die Produktion und den Konsum steigern, die Profite erhöhen will. Verständlich eigentlich, denn Wachstum bietet auf den ersten Blick nur Vorteile, von denen fast alle profitieren: Die Unternehmen, weil die Gewinne steigen. Die Gewerkschaften, weil der Spielraum für höhere Löhne grösser wird. Ladenbesitzer, weil die Umsätze wegen der gestiegenen Kaufkraft klettern. Sogar die Dritte Welt bekommt etwas ab vom Kuchen, weil die reichen Länder in Boomjahren für gewöhnlich mehr Geld in die Entwicklungshilfe stecken. Und die Politiker? Sie werden wieder gewählt, weil es allen gut geht. Würden sie gegen das Wachstumsgebot antreten, würden sie weggefegt. So kommt es, dass die meisten von ihnen nach dem Wachstum rufen – die Linken und die Gewerkschafter an vorderster Front. So, als ob das Ende des fossilen Zeitalters nicht vor der Tür stünde. Mit Wirtschaftswachstum und dem «Joker», dem technischen Fortschritt, so ihre Begründung, liessen sich alle Probleme beseitigen. Sogar jene Schäden, Verheerungen und Umweltschäden, die durch das Wachstum selber hervorgerufen würden. Bremsen? Vor Jahren war es der Club of Rome, der warnte – und belächelt wurde. Heute sind es einzelne Wissenschaftler und eine Handvoll Ökonomen und Organisationen, die aufzurütteln versuchen. Das Wachstum, sagen sie, führe zu einem globalen Kollaps, zu sozialer Ungerechtigkeit und zum ökologischen Desaster. Schlicht deshalb, weil die Rechnung nicht mehr aufgehe. Weil die wachsende Weltbevölkerung und der in der Geschichte einzigartige Ressourcenverschleiss unseren Planeten weit über einem nachhaltigen Niveau in Anspruch nehmen. Dennis Meadows, Autor des Buches «Grenzen des Wachstums», sagt: «In den kommenden 25 Jahren werden die Industrienationen mehr Wandel sehen, als es im vergangenen Jahrhundert der Fall war – politisch, wirtschaftlich und auch ökologisch. (…) Das Tückische ist: Lange Zeit sieht es so aus, als würde nichts passieren, und dann gibt es auf einmal einen plötzlichen Wandel. (…) Wenn Sie auf ein Stoppschild zufahren, können Sie weit vorher Tempo rausnehmen oder kurz zuvor auf die Bremsen treten. Wir fahren mit vollem Tempo auf die Kreuzung zu.» Der Mann hat leider recht. Die meisten von uns wissen, dass es so ist oder ahnen es zumindest: Wirtschaftsleute, Wissenschaftler und Politiker, und sogar der Mann von der Strasse. Es wäre ein Gebot der Stunde, diese globale Problematik auch global und beherzt anzupacken. Doch bisher tut niemand etwas. Weil noch immer gilt: Nur eine wachsende Wirtschaft ist eine gute Wirtschaft. Na dann, viel Glück uns allen!

Leitartikel aus der Basler Zeitung vom 28.06.2008