Mit dem Klimawandel kommen wir auf die Welt

Wir müssen unser Denken globalisieren, um Lösungen für alte Probleme zu finden

Mitten durch Berlin verlief eine Mauer. Die Welt war zweigeteilt und die beiden Blöcke bedrohten sich mit gegenseitiger Auslöschung. Dann fiel die Mauer und die Globalisierung begann. Was wie ein singuläres Ereignis erscheint, ist für Historiker Teil einer Wellenbewegung. Vor dem Ersten Weltkrieg war die Welt, und vor allem die Weltwirtschaft bereits so stark verflochten wie heute. Darauf folgte eine Phase der Entflechtung, die schliesslich im Kalten Krieg mündete.

Nun haben wir wieder die Möglichkeit, die Welt als Ganzes zu sehen. Die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verflechtungen nehmen zu. Die wesentlichen Treiber dieser Entwicklung sind der technische Fortschritt, insbesondere Kommunikationstechnologien wie das Internet und der Kapitalismus. Offene Märkte ermöglichen Handel und damit Spezialisierung und Arbeitsteilung. Das fördert Wachstum und Produktivität. Dank der Globalisierung wächst der Kuchen. Noch nie zuvor haben so viele Menschen die Armut hinter sich gelassen und gehören jetzt zur Mittelschicht. Doch nun treten wir in eine neue Phase der Globalisierung, eine Phase, die auch die Historiker nicht kennen. Es gibt plötzlich ein Gut, das wir uns mit allen anderen Menschen auf unserem Planeten teilen: Die Luft zur Entsorgung unserer CO2-Emissionen. Plötzlich ist alles mit allem verknüpft: Die Pausenmilch für chinesische Schulkinder, die Eisbären, denen das Eis abhanden kommt, die hochdeutschen Ansagen im Tram und die Hungerrevolten von Bangladesch bis Haiti. Der Klimawandel ist unser Problem, und mit «unser» ist die ganze Menschheit gemeint. Die Interessen der Schweizer, Chinesen, Amerikaner und Russen sind identisch: das Klima. Zum ersten Mal stehen wir vor einem globalen Problem, das einer globalen Antwort bedarf. Der entscheidende Treiber für diese neue Phase der Globalisierung ist der Klimawandel. Er zwingt uns, eine globale Sichtweise einzunehmen, unser Denken zu globalisieren.

Hat man erst mal die Brille mit dieser globalen Sicht auf, rücken automatisch auch andere Probleme ins Blickfeld: Eine Milliarde Menschen leidet Hunger, und täglich werden es wegen der steigenden Lebensmittel- und Energiepreise mehr. Das Problem ist nicht neu. Es stellt sich nur anders dar: Es ist ein globales Problem, es ist unser Problem. Und so müssen wir eine Lösung finden. Die Ausgangslage ist einfach: 15 Prozent der Weltbevölkerung haben nicht genug zu essen. Umgekehrt heisst das aber auch, dass 85 Prozent der Menschen genügend Nahrungsmittel haben. Die globale Sichtweise erlaubt, das Problem einzugrenzen. Und mit einer weltweiten Anstrengung lässt es sich womöglich gar lösen. Das neue Denken erlaubt es, Lösungen für alte Probleme zu finden. Schweiz. Von diesem neuen Denken profitieren aber nicht nur die Armen in Afrika, Südamerika und Asien. Es hat auch Vorteile für uns Europäer. Insbesondere die Schweiz ist hervorragend aufgestellt, um in einer immer vernetzteren Welt zu reüssieren. Die Schweiz ist bereits eines der am stärksten globalisierten Länder, wie ein von der ETH entwickelter Indikator zeigt. Der Bildungsstand ist hoch, die Unternehmen erfolgreich auf dem Weltmarkt tätig und rund um Genf verfügt die Schweiz über eine Ballung von internationalen Organisationen wie der UNO, dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, Médecins Sans Frontières, dem Global Fund oder der Welthandelsorganisation WTO.

Das neue, globale Denken zwingt uns aber auch, uns selbst gegenüber ehrlich zu sein. Denn man darf sich nichts vormachen: Freie Märkte verschärfen den Wettbewerb. Und Wettbewerb ist Vergleich mit anderen. Ohne die Pisa-Studien der OECD wüssten die Schweizer nicht, dass das hiesige Schulsystem nur Mittelmass ist. Aber das muss ja nicht so bleiben. Selbstverständlich hat die Schweiz die Fähigkeiten, um zum Spitzenreiter Finnland aufzuschliessen. Wer sich selbst gegenüber ehrlich ist, weiss, wo er steht und vermag ein Problem als Herausforderung zu verstehen. Die aktuellen Herausforderungen sind die Verhandlungen im Rahmen der Doha-Runde der WTO und für das Nachfolgeabkommen zum Klimaprotokoll von Kyoto. Sollen bei diesen Verhandlungen tragfähige Lösungen herauskommen, müssen wir eine globale Sichtweise einnehmen. Die soziale, politische und wirtschaftliche Vernetzung wird weiter zunehmen. Das ist eine Chance. mic

Leitartikel aus der Basler Zeitung vom 26.04.2008