Indien wird zum Back-Office der Welt
Neue Technologien verändern bestehende Arbeitsabläufe und ermöglichen neue Formen der Arbeitsteilung. Indien profitiert besonders von dieser Entwicklung.
Der Austausch von Gütern und Dienstleistungen ist nichts anderes als eine Form der Arbeitsteilung. So braucht der Bäcker nicht tagein, tagaus Brot zu essen und der Metzger sich nicht allein von Fleisch zu ernähren. Wer was wo herstellt, ändert sich dabei ständig. Insbesondere der technische Fortschritt ermöglicht es, Arbeitsabläufe immer weiter zu verbessern. Im Laufe dieses Prozesses spezialisieren sich die beteiligten Unternehmen zunehmend. Für einen Autohersteller mag etwa Motorenentwicklung und -bau das Kerngeschäft sein. Folglich wird er beispielsweise die Personaladministration zu einem anderen, spezialisierten Unternehmen auslagern. Dieser Vorgang, das Auslagern von Geschäftsprozessen, nennt sich im Managementjargon «Business Process Outsourcing», kurz BPO. Der grösste Teil des Outsourcings erfolgt im eigenen Land. Vom weltweiten BPO-Umsatz von 120 bis 150 Milliarden Dollar entfallen nur zehn Prozent auf das sogenannte Off-Shore BPO.
In diesem Marktsegment der BPO-Industrie ist Indien absolut führend, mit einem Marktanteil von über sechzig Prozent. Indien wird zum «Back Office» des Planeten, wo die Buchhaltung gemacht wird, Kundenanfragen in Callcenters beantwortet werden, aber auch Röntgenbilder ausgewertet werden. Indiens grosser Vorteil, ein gut ausgebildetes, englischsprachiges und (noch) relativ günstiges Reservoir an potenziellen Mitarbeitern, kommt hier voll zum Tragen.
Thomas L. Friedmann, Autor des Buches «Die Welt ist flach – eine kleine Geschichte des 21. Jahrhunderts», liess sich denn auch von den Softwarekonzernen Wipro und Infosys in Bangalore inspirieren: Durch Technologie und freie Märkte werden die Mauern zwischen den Ländern eingeebnet und Distanzen unerheblich. So unterhalten Grossunternehmen Entwicklungszentren in mehreren Zeitzonen, um 24 Stunden am Tag an wichtigen Projekten arbeiten zu können. Infosys hat das Konzept gar zu seinem Wahlspruch erhoben: Think Flat. mic
Von Speiseöl zu Software
Wipro Technologies Ltd. ist der zweitgrösste indische Informationstechnologie-Konzern. Gegründet wurde das Unternehmen bereits 1945 als Hersteller von Speiseölen. Der Name Wipro ist denn auch ein Akronym für «Western India Vegetable Products». Das Unternehmen wird seit 1966 von Azim Premji geleitet. Wipro ist an der Börse von Bombay und der New York Stock Exchange (NYSE) kotiert. mic
Neue Märkte für Indiens Zahlen-Rajas
Indiens Softwarekonzerne expandieren nach Europa, Japan und China
Von Martin Kölling, Tokio
Indiens Softwareindustrie hat den Sprung geschafft von der einfachen Programmierbude zum Anbieter gesamter Geschäftsprozesse. Die nächsten Angriffsziele: Europa und Japan.
Lakshman Rao rennt. Bei seinem Japan-Besuch ist der Zeitplan des operativen Chefs von Wipro, einem der grössten indischen Softwarehäuser (siehe Tabelle), dicht gedrängt. «Wir suchen Allianzpartner in Japan», sagt der Inder auf einer Pressekonferenz. Man sei in Gesprächen. Händedruck, schon hetzt er zum nächsten Termin.
Raos Blitzbesuch in Japan ist Teil einer neuen Angriffswelle, mit der Indiens Softwareschmieden ihre Stellung als globale IT-Grossmacht vor neuen Rivalen wie China verteidigen wollen. Seit Beginn der 90er-Jahre ist der Umsatz der asiatischen Softwareentwickler nach Schätzung der indischen Vereinigung der Softwareindustrie Nasscom von hundert Millionen auf voraussichtlich 64 Milliarden Dollar explodiert.
Vierzig Milliarden Dollar entfallen allein auf den Export digitaler Ware. Dabei erzielen die Inder achtzig Prozent ihres Umsatzes mit amerikanischen und britischen Unternehmen, während kontinentaleuropäische und japanische Kunden wegen der Sprachbarrieren noch unterrepräsentiert sind. Doch ausgerechnet im Schlüsselmarkt USA droht das Wachstum abzuebben.
Noch sind es nur kleine Wolken über dem ansonsten strahlend blauen Himmel Bangalores, Wipros Hauptsitz und Symbol des digitalen indischen Wirtschaftswunders. Die 900 Meter hoch gelegene Stadt mit ihrem milden Klima, Gärten und Parks hat sich vom «Rentnerparadies» in das «indische Silicon-Valley» verwandelt. Den Grundstein dazu legte schon Indiens erster Ministerpräsident Jawaharlal Nehru (1947 bis 1964) mit seiner Vision, Bangalore in Indiens «Stadt der Zukunft» zu verwandeln.
Staatliche Technologiefirmen wie das Raumfahrtunternehmen folgten dem Ruf und zogen in den folgenden Jahrzehnten die technische Elite des Subkontinents an. Die Zugezogenen geben Bangalore ein fast weltstädtisches Flair und machten die heutige Acht-Millionen-Einwohner-Metropole zu einer idealen Brutstätte für kreative Geister. Da die Lohnkosten der Ingenieure zudem nur einen Bruchteil von Experten im Westen ausmachten, siedelten in den 80er-Jahren zuerst Weltfirmen wie Texas Instruments Teile ihrer Softwareentwicklung an. Kurz darauf folgten einheimische Unternehmen, die erst kleine Auftragsarbeiten übernahmen und sich in den 90er-Jahren zu international operierenden Konzernen mauserten. Die jährlich 400 000 Absolventen technischer Studiengänge liefern genügend Personal, um noch über Jahre rasant weiterzuwachsen.
Doch um ihren Aufstieg langfristig fortsetzen zu können, müssen die Unternehmen ihre Abhängigkeit von englischsprachigen Kunden senken und sich von einfachen Auftragsprogrammierern in Auftragsabwickler gesamter Geschäftsprozesse verwandeln, sagen Experten. Sollten sie ihre Angebote qualitativ nicht verbessern können, werden westliche Softwarekonzerne und die konzerneigenen IT-Abteilungen eine «verlockende Alternative» bleiben, unken die IT-Analysten der Investmentbank Dresdner Kleinwort Wasserstein. Ausserdem schrumpft Indiens Preisvorteil durch steigende Löhne und eine Aufwertung der Landeswährung, während sich gleichzeitig China als noch billigere Programmierstube anbietet.
Die Inder nehmen die Herausforderung an. Seit Anfang dieses Jahrtausends umwerben sie gezielt nicht englischsprachige Kundschaft. Wipro beispielsweise lässt jährlich Hunderte Inder daheim monatelang Japanisch pauken, damit sich die japanische Kundschaft wohlfühlt, erzählt Wipro-Mann Rao. Die Strategie hat Erfolg, sagt Nasscom-Präsident Som Mittal. «Es gelingt der Industrie, zu wachsen und sich geografisch zu diversifizieren. »
Gleichzeitig stürzen sich die Softwarekonzerne auf den explodierenden Markt für die Ausgliederung von gesamten Geschäftsprozessen (im Fachjargon BPO, Business Process Outsourcing, siehe Artikel unten). Laut einer Nasscom-Studie kontrollieren indische Unternehmen weltweit zehn Prozent des jungen Geschäftsfelds. In den kommenden fünf Jahren wollen sie ihren Umsatz aus BPO auf fünfzig Milliarden Dollar verfünffachen.
Dabei sehen sie China weniger als Konkurrenz denn als riesige Chance. «Es findet derzeit eine Abgrenzung der Arbeiten statt, die China und die Indien machen können», sagt Rao. Einfache Arbeiten in China, komplexe Aufgaben, Unternehmenssoftware und umfassende Allianzen, die von der Entwicklung bis zum Vertrieb alle Stufen der Produktion umfassen, in Indien, so sieht er die Arbeitsteilung.
Vielmehr wittert Rao in China Expansionspotenzial. Derzeit hilft Wipro nur seinen internationalen Grosskunden bei deren China-Abenteuern. «Aber wir sehen China auch als Know-how-Quelle, um Entwicklungszentren zu gründen, und später als Kunden», sagt Rao. Die Zahl der Wipro-Mitarbeiter, die in China und Indien an China-Projekten sitzen, soll in nur zwei Jahren von derzeit 400 auf 2000 erhöht werden. Indiens Softwareindustrie sieht weiter goldenen Zeiten entgegen.
Aus der Basler Zeitung vom 17.03.2008