Doppelter Boom in Asien: China ist die globale Werkbank, während Indien als Dienstleister die Welt erobert
Das Reich der Mitte hat zehn Jahre Vorsprung auf den indischen Subkontinent. Und es wächst massiv schneller. Trotzdem ist Indien womöglich eher am Ziel.
Indien und China stellen zusammen 37,5 Prozent der Weltbevölkerung, erwirtschaften aber real nur gerade 6,4 Prozent des globalen Sozialprodukts. Die zwei bevölkerungsreichsten Staaten der Erde haben bis vor wenigen Jahren in der globalen Wirtschaft kaum eine Rolle gespielt. Seit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) – Indien 1995 und China 2001 – mischen die beiden asiatischen Giganten aber mächtig im globalen Handel mit. Noch vor zweihundert Jahren, als die europäischen Kolonialmächte die Welt untereinander aufteilten, wurde knapp die Hälfte der weltweiten Wertschöpfung in Indien und China erbracht. Dann aber fielen die beiden Länder immer weiter zurück, um nach dem Zweiten Weltkrieg den Erfolg in einer sozialistischen Wirtschaftspolitik zu suchen. Abgesehen von Anfangserfolgen verteilten sie damit den Mangel gleichmässig auf ihre grösser werdende Bevölkerung. Doch 1980 – China erholte sich noch von den Wirren der Kulturrevolution – geschah im Reich der Mitte Ungeheuerliches. Parteichef Deng Xiaoping erlaubte den Bauern, ihre Waren auf den Märkten zu verkaufen. Auch wurden die ersten Sonderwirtschaftszonen errichtet, um ausländische Investoren anzulocken. «Reich werden ist glorreich», hiess plötzlich die Parole.
Indien folgte zehn Jahre später. Es war 1991 knapp an der Zahlungsunfähigkeit vorbeigeschrammt. Die Abschottung der Wirtschaft stellte ganz offensichtlich keine Abkürzung auf dem Weg zu allgemeinem Wohlstand dar. Der Zoll auf ausländische Waren wurde von 87 Prozent schrittweise auf heute knapp elf Prozent reduziert und die Wirtschaft liberalisiert.
Und siehe da, plötzlich begann auch Indiens Wirtschaft massiv zu wachsen, zwar gemächlicher als in China, aber immer noch beachtlich.
Auf den ersten Blick hat also wirtschaftliche Liberalisierung zum Wiedererwachen der beiden Volkswirtschaften geführt. Bei genauerer Betrachtung werden aber unterschiedliche Wege erkennbar. Der Aufschwung in China ist weitgehend vom Staat gesteuert. Die Regierung nutzt die phänomenale Sparquote von über 50 Prozent des Volkseinkommens (Schweiz 27 Prozent), um im grossen Massstab die Infrastruktur auszubauen. Dadurch werden ausländische Investoren angelockt, die an der Ostküste Fabrik um Fabrik hochziehen. Mittlerweile haben sie 760 Milliarden Dollar zwischen Peking und Schanghai investiert. Die enormen Kapitalzuflüsse halten das Wirtschaftswachstum nun schon seit Jahren bei gut zehn Prozent. Immer mehr Bauern werden zu Arbeitern – und China zur Werkbank der Welt. Die Entwicklung ist getragen von der Industrieproduktion.
Indiens Sparquote hingegen beträgt bescheidenere 30 Prozent. Der Staatshaushalt ist defizitär, und die Infrastruktur gilt als eines der grossen Entwicklungshindernisse. Indiens Aufschwung ist nicht zentral geplant, sondern wird vom privaten Sektor getragen. Statt auf Masse und Marktanteil setzen indische Unternehmen auf Rentabilität. Der «Return on Investment» ist hier denn auch deutlich höher als im Reich der Mitte, wie die Deutsche Bank in einer Studie schreibt. Statt in Fabriken investiert Indien in Köpfe: Die wirtschaftliche Entwicklung wird hier vor allem vom Dienstleistungssektor getragen. Mit Millionen von gut ausgebildeten und Englisch sprechenden Mitarbeitern besorgt Indien die Buchhaltung, betreibt Callcenter, programmiert, forscht und entwickelt. Indien wird zum Backoffice der Welt. Immer öfter erregen indische Unternehmen aber auch Aufsehen mit eigenen Entwicklungen wie zuletzt der Autohersteller Tata mit dem Kleinwagen Tata Nano, der schon ab 2500 Franken zu haben ist. Der neue Volkswagen kommt aus Mumbai (Bombay).
Mit dem wirtschaftlichen Wiedererstarken der beiden Milliardenvölker werden natürlich auch deren Märkte interessant. Lange Jahre war der Handel über den Himalaja vernachlässigbar. Doch nun explodiert der Austausch von Waren und Dienstleistungen: Während der gesamte Aussenhandel von China und Indien mit 24 Prozent pro Jahr wächst, weist der Handel zwischen den beiden Kolossen Wachstumsraten von über 50 Prozent auf. So ist absehbar, dass China zum wichtigsten Handelspartner Indiens aufsteigt. «Die Zusammenarbeit ist wie zwei Pagodentempel, eine Hardware und eine Software», sagte Chinas Premierminister Wen Jiabao anlässlich seines Indienbesuchs im Jahr 2005. «Gemeinsam können wir die Führung der Welt übernehmen. »
Noch ist es nicht so weit. Doch schon im Jahr 2015 könnte China die USA als grösste Volkswirtschaft der Welt ablösen, wie eine OECD-Studie zeigt. Und Indien könnte 2050 Amerika auf den dritten Platz verweisen. Das Pro-Kopf-Einkommen der Chinesen wird aber dank dem Vorsprung und dem grösseren Wachstum auf absehbare Zeit deutlich über demjenigen der Inder bleiben.
Auf den ersten Blick ist also die chinesische Entwicklungsstrategie erfolgreicher. Politisch stellt sich der Vergleich aber anders dar: Die Inder haben 61 Jahre Erfahrung mit Demokratie. Das Rennen der beiden asiatischen Grossmächte könnte so enden wie die Fabel vom Hasen und Igel. Der Hase läuft zwar schneller, doch der Igel ist eher am Ziel – in Frieden, Freiheit und Wohlstand zu leben. mic
Aus der Basler Zeitung vom 29.03.2008