Melanie Martinelli nutzt die Chancen des boomenden Marktes Indien
Die Baslerin Melanie Martinelli ist nach Indien ausgewandert und hat dort eine Firma gegründet. Sie berät indische und europäische Firmen im Umgang mit kulturellen Differenzen.
Wir schreiben das Jahr 2004, und Melanie Martinellis Studium an der Fachhochschule beider Basel – heute die Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) – neigt sich dem Ende zu. Noch steht aber ein Auslandspraktikum auf dem Programm. China und Indien sind ihre Favoriten. «Meine Entscheidung war letztlich zufällig. Ich fühlte mich einfach mehr zu Indien hingezogen», erzählt die heute 27-jährige Frau aus Allschwil. So macht sie ein viermonatiges Praktikum bei Aztecsoft, einem indischen IT-Dienstleister in Bangalore, dem Herzen der indischen Software-Industrie. Anschliessend war klar: Ihre Diplomarbeit widmet sie den kulturellen Unterschieden zwischen Indien und Europa und deren Bedeutung in gemeinsamen Softwareprojekten.
Mit ihrer Diplomarbeit gewinnt sie promp den renommierten Prix Bartholdi. Zu der Zeit ist sie aber schon wieder in Bangalore. Diesmal nicht als Praktikantin, sondern als reguläre Mitarbeiterin von Aztecsoft. Als erfolgreiche Absolventin der Basler Fachhochschule wird sie mit der Geschäftsentwicklung Europa betraut und managt im Alter von 25 Jahren ein Team von 20 Mitarbeitern. «In Indien bekommt man viel schneller Verantwortung übertragen», sagt sie. «In der Schweiz hätte ich in diesem Alter kaum so viele Leute managen können. » Überhaupt gebe es für junge Europäer in Indien viele Chancen.
Das Einstiegsgehalt ist für Schweizer Verhältnisse allerdings tief: rund tausend Franken pro Monat. «In Bangalore kommt man damit aber gut zurecht. Ich zahle 200 Franken Miete, und das Essen ist auch sehr günstig. Man wird Teil der lokalen Wirtschaft.» Dazu gehöre auch, mit täglichen Stromausfällen, der saisonalen Wasserknappheit, dem Smog und dem permanenten Verkehrschaos zurechtzukommen. Noch vor drei Jahren haben nur wenige junge Europäer in Bangalore gelebt. Mittlerweile gibt es in der südindischen Zehn-Millionen-Stadt Hunderte Europäer, darunter viele Spanier, Deutsche und Franzosen. Die meisten kommen wie die junge Schweizerin anfangs als Praktikanten und bleiben dann ein bis zwei Jahre. «Überall, wo Sprachen wichtig sind, wie etwa im Marketing, werden immer wieder neue Leute gebraucht», sagt Martinelli. Die Jobchancen von Europäern auf dem indischen Arbeitsmarkt seien daher gut. Mittlerweile gibt Martinelli ihr Wissen auch weiter. Sie lehrt interkulturelle Kommunikation an der FHNW in Basel und am Indian Institute of Planning and Management in Bangalore.
Heute ist Martinelli schon einen Schritt weiter mit ihrer Integration in die indische Wirtschaft: Anfang letzten Jahres hatte sie das Gefühl, «wieder etwas Neues» machen zu müssen. Im April 2007 gründete sie ihre eigene Firma: Die «Lets Bridge IT (Bangalore) Pvt. Ltd. ». Die Rechtsform entspricht in der Schweiz einer GmbH. «Um eine GmbH zu gründen, braucht man in Indien nur dreitausend Franken, dafür aber viel Geduld», weiss die Jungunternehmerin. Dafür profitiert sie vom Boom auf dem Subkontinent: «Aktiv Kunden akquirieren musste ich nur gerade in den ersten paar Monaten. Seither kommen die Aufträge über Mund-zu-Mund-Propaganda. »
Mit ihrer Firma hat sie das Thema ihrer Diplomarbeit wieder aufgegriffen: Sie berät und schult indische und europäische Firmen im Umgang mit kulturellen Unterschieden. «Schon bei meiner Diplomarbeit habe ich festgestellt, dass viele Projekte wegen kultureller Missverständnisse verzögert werden oder gar scheitern.» Während Europäer zum Beispiel versuchten, Prozesse und Meilensteine zu definieren, um ein Projekt unter Kontrolle zu haben, bauen Inder eine persönliche Beziehung mit den anderen Projektbeteiligten auf. «In Europa redet man erst übers Geschäft und geht dann essen. In Indien geht man erst essen und redet dann übers Geschäft», erklärt Martinelli den unterschiedlichen Ansatz.
Ob sie vorhabe, je wieder in die Schweiz zurückzukommen? «Ja, wenn ich eine Familie gründe», antwortet sie spontan. Geplant sei das aber noch nicht, und so werde sie wohl vorerst weiter zwischen Bangalore und Basel pendeln. Momentan ist sie mit der Gründung einer Schweizer Niederlassung beschäftigt – und vielleicht, so sagt sie, schreibt sie ja auch noch eine Doktorarbeit. mic
Aus der Basler Zeitung vom 22.03.3008