Was Schweizer Unternehmen nach Indien zieht, was sie dort finden – und was nicht
Zur Kolonialzeit hatte Indien einen viel höheren Anteil am Welthandel als heute. Aber mit der Öffnung der ehemals sozialistisch gelenkten Wirtschaft holt der Subkontinent auf. Das grösste Kapital sind Millionen von bestens ausgebildeten Menschen.
Von Hasle-Rüegsau aus gesehen ist Indien weit weg. Doch eines schönen Tages im Jahr 2000 kommt Post vom Subkontinent. Eine Firma namens Tata erkundigt sich nach Kühlschmierstoffen. Blaser Swisslube, die Adressatin im Emmental, setzt auf eine internationale Strategie, aber Indien ist noch «terra incognita». Blaser bekommt schliesslich den Auftrag von Tata, dem grössten indischen Autohersteller, und sieht sich den indischen Markt genauer an. Bereits ein Jahr später wird Blaser Indien gegründet. «Indien ist unglaublich dynamisch», sagt Olivier Aebi, lange Jahre Leiter des Asiengeschäfts von Blaser. «An diese Geschwindigkeit muss man sich erst gewöhnen.» Und dann geht es Schlag auf Schlag: Anno 2002 nimmt Blaser die Produktion im südindischen Hyderabad auf. Und heute beschäftigt die Firma in Indien vierzig Mitarbeiter.
Was Blaser in Indien noch fehlt, ist eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Denn neben einem grossen Markt hat Indien vor allem eins zu bieten: Gut ausgebildete Arbeitskräfte. Das indische Bildungssystem bringt jedes Jahr 2,5 Millionen Universitätsabgänger hervor, darunter 400 000 Ingenieure und 60 000 Betriebswirte. Sie sind der Grund, dass alle grossen Softwareunternehmen Niederlassungen in Indien haben. IBM beispielsweise beschäftigt 73 000 Mitarbeiter und stellt jeden Monat 1000 weitere ein. Das Indiengeschäft wächst um 38 Prozent pro Jahr.
Begonnen hat das indische Softwarewunder mit der Angst vor Computerabstürzen vor der Jahrtausendwende. Millionen Zeilen Softwarecode mussten überprüft werden – eine anspruchsvolle, aber auch langweilige und vor allem langwierige Tätigkeit. Um die Kosten unter Kontrolle zu halten, begannen westliche Softwarekonzerne, einfache Programmierarbeiten nach Indien auszulagern.
Dabei ist es nicht geblieben. So betreuen die 2200 Projektmanager von IBM Indien längst Projekte aus der ganzen Welt. Aber auch Chemiefirmen wie Ciba oder Energie- und Transportinfrastruktur Anbieter wie Alstom haben Entwicklungszentren in Indien aufgebaut. Der Dienstleistungssektor ist denn auch der eigentliche Motor der indischen Wirtschaft: 55 Prozent der Wertschöpfung entfallen auf Dienstleistungen, 26 Prozent auf die Industrie und 18 Prozent auf die Landwirtschaft. Während sich China zur Werkbank der Welt entwickelt, wird Indien zum Backoffice und Entwicklungszentrum. Das Land ist heute bereits der weltweit zweitgrösste Exporteur von Informatikdienstleistungen. Das rasante Wachstum von über acht Prozent in den letzten Jahren hat aber auch seine Nachteile. Die indische Infrastruktur, von Strassen über die Wasser- und Stromversorgung bis zu Flughäfen, ist hoffnungslos überlastet. Stromausfälle sind alltäglich. Und auch die staatliche Verwaltung ist noch nicht Weltklasse.
Für Olivier Aebi von Blaser Swisslube ist die indische Bürokratie das grösste Problem. Der Super-GAU ist aber die Kombination aus Infrastrukturmängeln und komplizierten administrativen Abläufen: Ein Lastwagen braucht für die 2000 Kilometer von Mumbai (ehemals Bombay) nach Kalkutta geschlagene acht Tage. Jeder Bundesstaat hat andere Regeln und andere Formulare, wie Aebi sagt. Der eine hat die Mehrwertsteuer, der andere die Warenumsatzsteuer. Im einen ist Alkohol erlaubt, im anderen verboten. Und so weiter.
Ein Teil der Irrungen der indischen Bürokratie gehört zum Erbe der sozialistischen Wirtschaftspolitik nach der Unabhängigkeit 1947. Indien schottete sich ab. Und der Anteil des Landes am Welthandel sank von 2,4 Prozent anno 1950 auf unter 0,5 Prozent. Steigende Staatsausgaben für Subventionen von Lebensmitteln und Energie bei sinkenden Einnahmen führten schliesslich zu einer Wirtschafts- und Finanzkrise in den Jahren 1989 bis 1991. Indien war praktisch pleite. In dieser Situation setzte der damalige Finanzminister und heutige Premierminister, Manmohan Singh, auf die Liberalisierung der Wirtschaft.
Der Zoll auf Einfuhren sank von 87 Prozent auf jetzt noch 11 Prozent. Sektoren, die dem Staat vorbehalten waren, wurden für Privatunternehmen sukzessive geöffnet (Telekommunikation, Flugverkehr, Banken). Ausländern wurde gestattet, die Mehrheit an indischen Unternehmen zu erwerben. Seit 1995 ist Indien auch Mitglied der Welthandelsorganisation WTO. Die Anstrengungen haben sich gelohnt: Indien ist wieder Teil der Weltwirtschaft – und gar auf der Überholspur unterwegs. mic
Aus der Basler Zeitung 15.03.2008