Der Weltmarkt für Impfstoffe wächst um 16 Prozent pro Jahr
«Impfen» assoziiert man mit Schularzt und Narben auf dem Oberarm. Das grösste Marktpotenzial haben heute aber Impfungen für Erwachsene und die neuen Impfungen gegen Krebs.
Impfstoffe galten lange als uninteressant. In entwickelten Ländern waren sie im besten Fall Massenware mit niedrigen Gewinnmargen und ohne Wachstumspotenzial, und in Entwicklungsländern sahen sich die Hersteller oft genötigt, ihre Produkte gar zum Selbstkostenpreis abzugeben.Diese Situation hat sich grundlegend geändert: Marktforscher prognostizieren, dass der Weltmarkt für Impfstoffe jährlich um über 16 Prozent wachsen wird und 2010 ein Volumen von 21 Milliarden Dollar erreicht.
Mittlerweile hat der Markt für Impfstoffe auch seinen ersten Blockbuster mit einem Umsatz von knapp zwei Milliarden Dollar: Prevenar verhindert Infektionen durch Pneumokokken-Bakterien, die Lungen- und Hirnhautentzündungen verursachen können. Allein in Deutschland sterben jedes Jahr 75 000 Menschen an Lungenentzündung. Doch das grösste Marktpotenzial haben Impfstoffe für Erwachsene, insbesondere Grippeimpfungen sowie neue Impfungen gegen Krebs. Der Kanton Baselland bietet allen Mädchen in der siebten Klasse an, sich gegen das Gebärmutterhalskrebs auslösende Virus impfen zu lassen. Der Haken an dem neuen Impfstoff ist der Preis: 800 Franken pro Person. Und auch für andere Krebsarten sind Impfstoffe in der Forschungspipeline der Hersteller, etwa für Colon-, Lungen- oder Prostatakrebs. Der Markt für Krebsimpfungen soll so von 135 Millionen Dollar auf acht Milliarden im Jahr 2012 anwachsen.
Von dieser Entwicklung profitieren die wenigen noch verbliebenen Impfstoffhersteller. Die Branche hat einen Konsolidierungsprozess hinter sich, den nur wenige Unternehmen überlebt haben. So gab es in den USA Anfang der 70er-Jahre noch über 30 Hersteller, Mitte der 80er-Jahre noch 15 und heute dominieren fünf Pharmafirmen 85 Prozent des Weltmarkts. Eine davon ist Novartis, die soeben ein Non-Profit-Forschungszentrum in Siena eröffnet hat, an dem primär Dritte-Welt-Krankheiten erforscht werden sollen. Aids, Malaria & Co. Denn trotz der Forschungsfortschritte fehlen immer noch Wirkstoffe gegen die grossen «Killer» der Dritten Welt – Durchfall, Malaria und Aids. Ausser für Aids, das auch in reichen Ländern verbreitet ist, lohnt es sich bei diesen Krankheiten für Pharmafirmen kaum, in die Forschung zu investieren. Die Patienten selbst wie auch ihre Heimatländer sind zu arm, um neue Medikamente zu kaufen. Es fehlt also ein Markt. Um diesem Problem abzuhelfen, haben einige europäische Regierungen und die Bill und Melinda Gates Stiftung einen 1,5 Milliarden Dollar Fond aufgelegt, der den Pharmafirmen neuentwickelte Produkte abkauft und so einen Markt schafft. Nun fehlen nur noch grosse Durchbrüche in der Forschung. Impfen ist wieder «in» bei Jungen wie Alten, Armen wie Reichen.
Novartis erforscht Dritte-Welt-Seuchen
Der Pharmamulti eröffnet im italienischen Siena ein Non-Profit-Forschungszentrum
Von Martin Hicklin, Siena
Die Krankheiten, die weltweit am meisten Opfer fordern, wurden bislang von der Pharmaforschung vernachlässigt. Am neuen Non-Profit-Forschungsinstitut von Novartis sollen zunächst Impfstoffe gegen Durchfallerkrankungen entwickelt werden.
Novartis will ein guter Weltbürger sein: Gestern hat der Basler Pharmakonzern in Siena ein Non-Profit-Forschungsinstitut eröffnet, das sich der Suche nach Impfstoffen gegen Infektionen widmen wird, die vor allem in der Dritten Welt vorkommen. Diese wurden bislang vernachlässigt. Wegen fehlender kommerzieller Aussichten zielen nur nur gerade etwa zehn Prozent der globalen Forschungsaufwendungen auf diese Krankheiten, die ihrerseits neunzig Prozent der Krankheitsbelastung ausmachen.
Das «Novartis Vaccines Institute for Global Health» (NVGH) funktioniert als Public-Private Partnership nach ähnlichem Muster wie das 2002 von Novartis gegründete Singapurer Institut für Tropenkrankheiten und wird die Zusammenarbeit mit externen Partnern suchen, um zum Ziel zu kommen. Im Fokus sind zunächst in der Dritten Welt häufig auftretende Durchfallerkrankungen, die wie etwa Typhus von verschiedenen Salmonellen-Stämmen verursacht werden und vor allem unter Kindern viele Opfer fordern. Nach offiziellen Schätzungen treten mehr als 4,5 Milliarden Infektionen dieses Typs pro Jahr auf. Impfstoffe könnten Schutz bieten.
Der präventive Weg drängt sich auch auf, weil einige der Erreger gegen bisherige Medikamente resistent und damit besonders gefährlich geworden sind. «Wir machen einen alten Traum wahr», sagt der Forschungsleiter Vaccines bei Novartis, Rino Rappuoli. «Als wir nach einem Hauptthema suchten, waren sich alle Experten einig, dass es die Durchfallkrankheiten sein müssten», erklärt der Gründungsdirektor des NVGH, Allan Saul.
Das Institut soll bis 2010 etwa 80 Mitarbeiter haben. Saul, der vorher in der Malaria- und Vektorforschung des amerikanischen National Institute of Allergy and Infectious Diseases tätig war, wird jetzt Partner suchen, die Projekte mitfinanzieren. Dass dies sehr gut funktioniert, zeigt das Beispiel Singapur, wo sich etwa die Bill and Melinda Gates oder die Wellcome Stiftung engagiert haben. Allan Saul verfügt über jahrzehntelange Erfahrung und ist immer wieder mal auch am Schweizerischen Tropeninstitut in Basel auf Besuch, wie dessen Direktor, Professor Marcel Tanner, erzählt. Das neue Institut liegt in unmittelbarer Nähe des globalen Forschungszentrums, das die Impfstoff- und Diagnostikdivision von Novartis neben umfangreichen Produktionsanlagen in Siena unterhält. An zwei benachbarten Standorten arbeiten hier 1500 Personen, darunter 250 Forscher. Die Nähe erlaubt dem neuen Institut, das unmittelbar benachbarte Know-how zu nutzen, wie Divisionsleiter Jörg Reinhardt bemerkt.
Die Neugründung ist auch ein Beleg dafür, dass die Impfstoffdivision mit Hauptsitz in Cambridge/Boston im Aufwärtstrend ist. «Wir sind gut aufgestellt», sagt Jörg Reinhardt, der das ganze Jahr zwischen Cambridge, Marburg, Liverpool, Siena und Kalifornien und dem Hauptsitz in Basel pendelt. Novartis gehört zu den wenigen noch verbliebenen Impfstoffherstellern der Welt. Allerdings wächst das globale Impfstoffvolumen insgesamt stark. Setzten die fünf Grossen 2005 noch neun Milliarden Dollar um, waren es 2007 schon siebzehn. Die im NVGH entwickelten Produkte sollen an Partner auslizenziert oder allenfalls von Novartis Vaccines für Auftraggeber produziert werden. Einfach einzusetzende und kostengünstige Impfstoffe für die Entwicklungsländer bereitzustellen, ist zwar das vorerst noch ferne Ziel. Sollte sich allerdings ein Produkt auch für den Einsatz in der entwickelten Welt eignen, wird Novartis dafür einen angemessenen Preis einfordern. Auch gute Bürger, und seien es «corporate citizens», haben nichts zu verschenken.
Aus der Basler Zeitung vom 23.02.2008