Das CO2-Budget des Weltklimarats beinhaltet eine Hypothek von 100 Milliarden Tonnen CO2
Eine neue Methodik zur Berechnung von CO2-Budgets liefert dramatische Resultate: Um die Klimaüberhitzung mit einer zwei Drittel Wahrscheinlichkeit bei 1,5 Grad zu stoppen, müsste die Welt schon Ende 2030 klimaneutral sein.
Die Menschheit hat ihr CO2-Budget noch nicht ganz aufgebraucht, sagt der Weltklimarat IPCC. Wenn sie die Emissionen bis Ende 2030 halbiert und dann bis zum Jahr 2050 auf Netto-Null absenkt, dann hat sie eine Chance von 50 Prozent, die Klimaüberhitzung bei 1,5 Grad zu stabilisieren. Was auf den ersten Blick hoffnungsvoll erscheint, ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen ist die Münzwurf-Wahrscheinlichkeit ein extremes Risiko, wenn man bedenkt, dass zwischen 1,5 und zwei Grad Kipppunkte des Klimasystems liegen könnten, nach deren Überschreiten sich die Klimakrise selbst verstärkt – durch Rückkoppelungseffekte wie das Tauen des Permafrosts. Dann droht eine Erwärmung um vier oder fünf Grad und das Ende der menschlichen Zivilisation. Zum anderen rechnet der IPCC bei seinem CO2-Budget eine „Klimahypothek“ von 100 Milliarden Tonnen nicht mit: „Die mögliche zusätzliche Freisetzung von Kohlenstoff aus Permafrost und Methan aus Feuchtgebieten würde das Budget um bis zu 100 Milliarden Tonnen CO2 in diesem Jahrhundert reduzieren und anschließend um noch mehr.“ [1 s. C.1.3.] Dass dieser Buchhaltungstrick möglich ist, hat einen einfachen Grund: Bislang gab es noch keine allgemein anerkannte Methodik für die Berechnung von CO2-Budgets.
Diesen Mangel wollen Forscher um Joeri Rogelj von der britischen Universität Imperial College nun beheben. In einer Studie im Fachmagazin Nature schlagen sie eine Systematik für die Berechnung von CO2-Budgets vor, die alle Faktoren mitberücksichtigt und so eine kreative CO2-Buchhaltung verhindert. [2] Die Grundlage aller CO2-Budgets ist der lineare Zusammenhang zwischen den kumulierten Emissionen seit Beginn der industriellen Revolution und der Erwärmung. Um das verbleibende Budget zu berechnen, müssen zusätzlich aber weitere Faktoren berücksichtigt werden: insbesondere die Emissionen von anderen Treibhausgasen wie Methan oder Lachgas und die Rückkoppelungseffekte des Erdsystems. Um zu demonstrieren, wie die vorgeschlagene Budget-Systematik funktioniert, haben die Forscher dann das CO2-Budget der Menschheit neu berechnet. Obwohl sie dabei alle Parameter aus dem IPCC-Bericht übernommen haben, kommen sie zu einem dramatischen Ergebnis: Ab dem 1. Januar 2020 kann die Menschheit nur noch knapp zehn Jahre lang so viel emittieren wie letztes Jahr, bevor das Budget aufgebraucht ist (siehe Tabelle).
CO2-Budgets für das 1,5-Grad-Ziel nach Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung
Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung | CO2-Budget in Milliarden Tonnen (Gt) ab dem 1. Januar 2018 | Jahre mit 2018er Emissionen ab dem 1. Januar 2020 | Klimaneutral ab Ende (Jahr) bei linearer Reduktion auf null |
---|---|---|---|
66% | 320 Gt | 5,7 Jahre | 2030 |
50% | 480 Gt | 9,6 Jahre | 2038 |
33% | 740 Gt | 15,8 Jahre | 2051 |
Nun ist es natürlich unrealistisch, dass die Emissionen auf dem Niveau des Jahres 2018 verharren und dann plötzlich auf null abfallen. Wenn man hingegen davon ausgeht, dass die Emissionen ab dem 1. Januar 2020 linear auf null abgesenkt werden, lässt sich berechnen, wann die Welt klimaneutral sein muss: Wenn die Menschheit beschließt, das 1,5-Grad-Ziel mit einer zwei Drittel Wahrscheinlichkeit zu erreichen, dann hat sie rund 11 Jahre Zeit (zweimal 5,7 Jahre) um die Emissionen auf null zu bringen. Das bedeutet, dass die Emissionen Ende 2030 bei Netto-Null liegen müssen. Deutschland, die EU und andere Industriestaaten müssten ihre Emissionen aber eigentlich schon vor 2030 auf Netto-Null senken, um weniger entwickelten Ländern Zeit zu geben, das Ziel etwas später zu erreichen. Das Ziel müsste daher bei Netto-Null bis Ende 2028 oder gar bis Ende 2025 liegen. Letzteres entspricht der zweiten Forderung der Umweltbewegung Extinction Rebellion, dem Aufstand gegen das Aussterben. „Wenn man 1,5 Grad mit einer zwei Drittel Wahrscheinlichkeit erreichen will sowie die Feedbackmechanismen der Erdsystems und die grössere Verantwortung von Grossbritannien berücksichtigt, dann ist das die logische Konsequenz“ sagt Rogelj.
CO2-Budgets für das Zwei-Grad-Ziel nach Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung
Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung | CO2-Budget in Milliarden Tonnen (Gt) ab dem 1. Januar 2018 | Jahre mit 2018er Emissionen ab dem 1. Januar 2020 | Klimaneutral ab Ende (Jahr) bei linearer Reduktion auf null |
---|---|---|---|
66% | 1070 Gt | 23,8 Jahre | 2067 |
50% | 1400 Gt | 31,7 Jahre | 2082 |
33% | 1930 Gt | 44,5 Jahre | 2108 |
Selbst wenn die Menschheit bereit ist, das 1,5-Grad-Ziel nur mit Münzwurf-Wahrscheinlichkeit zu erreichen, ist klar, dass Netto-Null bis 2050 nicht ausreicht. Letzteres wird derzeit von UN-Chef António Guterres propagiert und ist das Ziel von Großbritannien und Frankreich. Für eine 50-Prozent-Wahrscheinlichkeit bei linearer Absenkung der Emissionen auf null hat die Menschheit noch 19 Jahre (zweimal 9,6 Jahre) Zeit, also bis Ende 2038. Wenn man wieder davon ausgeht, dass wohlhabende Länder mit großen technischen und industriellen Fähigkeiten voran gehen, dann müsste Deutschland Netto-Null-Emissionen also bis Ende 2035 erreichen. Das entspricht der Forderung der deutschen Sektion der Fridays for Future Bewegung.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dagegen im Juni gesagt: „Ja, wir setzen uns unter Druck. Wir wollen bis 2050 klimaneutral sein.“ Dabei hat sie allerdings nicht erwähnt, dass in diesem Fall das 1,5-Grad-Ziel nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 33 Prozent erreicht wird. Praktisch bedeutet das: Wer bis 2050 klimaneutral sein will, plant das 1,5-Grad-Ziel zu verfehlen. mic
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[1] IPCC, 08.10.2018: Special Report on Global Warming of 1.5 °C – Summary for Policymakers