Die „Extinction Rebellion“ beruft sich auf das „Recht auf Revolution“
Trotz über 1000 Verhaftungen gelang es der britischen Polizei nicht, eine fast zweiwöchige Demonstration gegen die Umwelt- und Klimakrise aufzulösen. Die Demonstranten zogen sich gestern „unter eigenen Bedingungen“ zurück und der Aufstand geht weiter.
Der Aufstand begann am 31. Oktober 2018 um fünf nach zwölf. Nach der formellen Erklärung des „Aufstands gegen die Ausrottung“ [1] respektive der „Extinction Rebellion“ (XR) vor dem britischen Parlament besetzten die selbsternannten „Rebellen“ die Strasse und 15 Menschen wurden verhaftet. Anschliessend folgten ähnlich Aktionen im Wochentakt. Im November besetzten rund 6000 Menschen die fünf wichtigsten Brücken Londons für mehrere Stunden. Es gab 70 Verhaftungen. Die britische Zeitung The Guardian beschrieb die Besetzungen als „eine der grössten Aktionen von friedlichem, zivilem Ungehorsam in Jahrzehnten“. [2] Dabei war das nur ein Probelauf.
The revolution will be televised. XR hat offensichtlich ein ziemlich professionelles Medienteam und die Unterstützung von Greta Thunberg. (Video: XR)
Der Aufstand war akribisch vorbereitet worden. „Diese Bewegung beruht auf Forschung“ sagt Roger Hallam, einer der Mitbegründer von XR. [3] Hallam erforscht an der Londoner King’s College Universität das „effektive Design von radikalen Kampagnen“. Der Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass trotz der Bemühungen der grossen Umweltorganisationen die Treibhausgasemissionen und damit die Temperaturen steigen und die Zahl der Tiere und Arten auf der Erde sinkt. „XR ist die Folge von 30 Jahren an Demonstrationen und Petitionen, die versagt haben.“ [4] Die Politik wirkt zwar geschäftig: Es werden Gesetze erlassen, Grenzwerte verschärft und internationale Abkommen ausgehandelt. Doch gleichzeitig verschlechtert sich der Zustand der Umwelt immer weiter. Dem will XR nicht länger zuschauen. „Die Leute haben plötzlich begriffen: Die Lösung wird nicht kommen. Wir werden alle sterben. Das ist das Ende – ausser wir tun selbst etwas.“ [4]
Wer Druck auf eine Regierung ausüben will hat drei Optionen: Die herkömmlichen Kampagnen der Umweltorganisationen, den Einsatz von Gewalt oder massenhaften, zivilen Ungehorsam. „Eine vierte Option gibt es nicht“, sagt Hallam. Dabei ist ziviler Ungehorsam die effektivste Methode: 54 Prozent der gewaltfreien Aufstände erreichen ihr Ziel aber nur 25 Prozent der Aufstände mit Gewalteinsatz. Hinzu kommt offensichtlich die ethische Dimension: „Gewalt ist ein Desaster und führt zu Bürgerkrieg.“ Auf dieser Grundlage entwickelte Hallam ein „Modell des zivilen Widerstands“. [4] Damit dieser Erfolg hat sind fünf Schlüsselelemente erforderlich.
1. Man braucht Tausende von Menschen, die bereit sind ins Gefängnis zu gehen. Der britische Journalist und Umweltvordenker George Monbiot sagt: „Die Leute wissen nur dann, dass es ernst ist, wenn Menschen bereit sind ihre Freiheit für ihre Überzeugungen aufzugeben.“ [11] Und fügt hinzu: „Wir sind diese Menschen.“
2. Dann muss man sich auf die Hauptstadt konzentrieren, „weil dort die Regierung ist“, so Hallam.
3. Dort muss man das Gesetz brechen, denn das stellt die Regierung vor ein Dilemma: „Entweder sie tut nichts und dann haben wir gewonnen. Oder sie geht dagegen mit Gewalt oder Verhaftungen vor. In diesem Fall haben wir auch gewonnen, weil wir so eine Menge an Aufmerksamkeit in den Medien produzieren.“
4. Die Aktionen muss man tage- oder gar wochenlange durchhalten. Hallam vergleicht zivilen Ungehorsam mit einem Streik. Wenn die Belegschaft einen Tag streikt, dann zuckt das Management der Firma mit den Schultern. Wenn sich der Streik aber über viele Tage oder gar Wochen hinzieht, dann ist klar, dass die Firma irgendwann Pleite geht. „Tagein, tagaus für Störungen zu sorgen, wirkt exponentiell.“
5. Und schliesslich muss es Spass machen.
Das Ziel des Ganzen ist, die Regierung zu Verhandlungen zu zwingen. Um das zu erreichen seien aber „irgendwo in den Tausenden“ an Verhaftungen erforderlich, schätzt Hallam. Dabei setzt er auch auf die Polizei: „Die Polizei wird zur Regierung gehen und sagen: ‚Wir machen das nicht mehr mit. Wir sind nicht dafür da, 80-jährige Omas und vierjährige Kinder zu verhaften. Es muss eine politische Lösung geben.‘“ [3]
Wenn das Ziel von Verhandlungen mit der Regierung erreicht ist, ist ein weitere Punkt entscheidend: „Man muss einen Plan haben.“ [4] Im Fall von XR besteht der Plan aus drei Forderungen: Die erste Forderung ist, die Wahrheit über den Zustand des Klimas und der Umwelt zu sagen und einen Notstand auszurufen. Die zweite Forderung ist die Reduktion der CO2-Emissionen auf Null bis 2025 und die dritte Forderung ist die Einberufung von Bürgerversammlungen, um zu entscheiden, wie dies geschehen soll.
Dabei ist die letzte Forderung die radikalste. Aus Sicht von XR haben der Parlamentarismus und die Parteiendemokratie beim Klima- und Umweltschutz versagt. Daher sollen zufällig ausgewählte Bürger in Versammlungen darüber debattieren und entscheiden wie es weiter gehen soll. Dazu gehört auch die Entscheidung, bis wann Null-Emissionen erreicht werden sollen, weswegen die zweite Forderung eher indikativen Charakter hat. Sollten die Regierung und das Parlament den Bürgerversammlungen zustimmen, würden sie sich bis zu einem gewissen Grad selbst entmachten. Solche Versammlungen haben sich in Irland bewährt. Auf diese Weise wurde entschieden, eine Volksabstimmung über das Verbot von Abtreibungen durchzuführen. Das Verbot wurde dann mit grosser Mehrheit abgeschafft. Eine andere Bürgerversammlung beschloss, dass die irische Regierung beim Klimaschutz deutlich ehrgeiziger werden muss. Hallam ist sich sicher, dass das Resultat in Grossbritannien ähnlich ausfallen würde: „Ganz normale Leute müssen darüber entscheiden, ob sie leben oder sterben wollen. Wenn sie sterben wollen, ist das OK. Aber man kann voraussagen, dass die Leute nicht wollen, dass ihre Kinder sterben.“ [4]
Noch ist es aber lange nicht so weit. Derzeit arbeitet XR noch daran, den öffentlichen Diskurs und damit die Wahrnehmung der Klima- und Umweltkrise zu verändern. Ziel ist die Verschiebung des sogenannten Overton-Fensters. Dieses definiert, was gemäss der öffentlichen Moral eine akzeptable Äusserung ist und was als undenkbar oder radikal gilt. Derzeit umfasst das Overton-Fenster in der Klimadebatte Themen wie Arbeitsplätze in der Autoindustrie oder Strukturbrüche in den Kohleregionen. Aus Sicht der „Rebellen gegen die Ausrottung“ ist die Klimakrise in „Wahrheit“ aber eine Frage von Leben und Tod – selbst für die Menschheit als Ganzes. Dabei haben sie viele Wissenschaftler auf ihrer Seite. Johan Rockström, Kodirektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), warnte etwa in einer Studie, es könnte einen Kipppunkt geben, ab dem sich die Klimaerwärmung selbst verstärkt. Wird dieser Punkt erreicht, steigt die Temperatur um mehr als fünf Grad und die Erde erlebt eine „Heisszeit“. Wo der Schwellenwert liegt, sei unsicher, „aber er könnte nur Jahrzehnte in der Zukunft liegen bei einer Klimaerwämung von rund zwei Grad“. Die Konsequenzen wären katastrophal: „Eine Heisszeit birgt letztlich ein grosses Risiko für die Bewohnbarkeit des Planeten für Menschen.“ [5] Die Arten verschwinden derweil schon ohne Heisszeit. Die Erde erlebt derzeit das sechste Massenaussterben von Arten. Von den ersten fünf wurde eine durch den Einschlag eines Meteoriten verursacht und die anderen vier durch einen schnellen Anstieg der Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre. Das beunruhigt auch die Chefin der UN-Konvention für Biodiversität Cristiana Palmer: „Die Zahlen sind erschütternd. Ich hoffe wir sind nicht die erste Art, die ihr eigenes Aussterben dokumentiert.“ [6]
XR stellt den Klimawandel aber nicht nur deshalb als Gefahr für das Leben von Millionen Menschen und für unsere Zivilisation dar, um das Overton-Fenster zu verschieben. Es schafft auch die Voraussetzung für das „Recht auf Revolution“. Dieses besteht als Teil des Naturrechts schon immer. Genauer definiert wurde es dann von dem britischen Philosophen und Vordenker der Aufklärung John Locke. Dieser schrieb in den 1689 erschienen „Zwei Abhandlungen über die Regierung“: „”Wenn die Legislative versucht, die absolute Macht über Leben, Freiheiten und Vermögen der Menschen selbst an sich zu reißen oder in die Hände anderer zu legen, verwirkt sie durch diesen Vertrauensbruch die Macht, die die Menschen ihr verliehen hatten, und diese fällt an die Menschen zurück.” Diese Bedingung erfüllen die Regierungen mit ihrer Umwelt- und Klimapolitik. Indem sie zulassen, dass das Ökosystem Erde und damit die Lebensgrundlage der Menschheit nachhaltig geschädigt wird, geben sie etwas Anderem “absolute Macht über das Leben der Menschen“. Diese Sicht teilt auch der ehemalige US-Vizepräsidenten und heutige Klimaaktivist Al Gore: „Ziviler Ungehorsam hat eine ehrenwerte Geschichte und wenn die Dringlichkeit und moralische Klarheit einen Schwellenwert erreichen, dann hat ziviler Ungehorsam eine Rolle zu spielen.“ [7] Aber was ist mit den Menschen, deren Leben durch den zivilen Ungehorsam beeinträchtigt wird? Hallam sagt dazu: „Die Öffentlichkeit ist kein unschuldiger Zuschauer. Sie hat Verpflichtungen und es ist gerechtfertigt die Öffentlichkeit zu beeinträchtigen, wenn diese ihrer sozialen Verpflichtung nicht nachkommt, die Kontinuität der Gesellschaft sicher zu stellen.“ [8]
Von diesem „Recht auf Revolution“ hat XR in den letzten beiden Wochen ausgiebig Gebrauch gemacht. Letzte Woche Montag besetzten die Rebellen vier Verkehrsknotenpunkte der britischen Hauptstadt: die Waterloo Brücke, Oxford Circle, den Platz vor dem Parlament und Marble Arch. Legal davon war nur Marble Arch. Die Regierung reagierte darauf mit Repression: Sie verhaftete über 1000 Menschen, darunter Rentner, schwangere Frauen und Jugendliche. Londons Polizeichefin Cressida Dick sagte dazu: “Ich habe noch nie eine Polizeioperation geshen, bei der mehr als 700 Menschen verhaftet wurden. Das zeigt wie entschlossen wir sind.” [9] Ironischerweise zeigt es allerdings auch, wie entschlossen die “Aufständischen” sind. Diese gehen bislang allerdings noch ein relativ geringes Risiko ein. Die meisten Verhafteten wurden umgehend wieder frei gelassen und der erste, der mittlerweile bestraft wurde erhielt eine Strafe von 105 Pfund, weil er zweimal verhaftet wurde. Die Richterin Devinder Sandhu sagte bei der Urteilsverkündung: “Dieses Land hat lange bestehenden Respekt für das Recht der Menschen zu protestieren, aber wenn es in den Bereich des Strafrechts fällt, dann müssen die Gerichte handeln.“ [10] Angesichts der möglichen Höchststrafe von 1000 Pfund, klang das jedoch fast schon wie eine Entschuldigung, den „Täter“ überhaupt zu bestrafen.
Auf Milde der Richter können die vielen Verhafteten noch aus einem anderen Grund hoffen: Bislang zeichnet sich die Rebellion dadurch aus, dass die Demonstranten den Polizisten stets freundlich und respektvoll begegnen. Eine „Rebellin“ formulierte das so: „Wir stehen nicht in Opposition gegen sie. Wir kommen hierher um sie einzuladen, an einer globalen Volkserhebung teilzunehmen.“ [11] Diese Einladung besteht unter anderem darin sich anzuketten oder mit Sekundenkleber festzukleben. Aber wenn die Polizisten dann einen Demonstranten nach dem anderen mühselig befreien, um ihn festzunehmen, erfolgt kein Widerstand. Nach und nach ist es der Polizei so gelungen, die drei illegalen Demonsterationsgelände „zurückzuerobern“ und wieder dem Verkehr zu überantworten. Am Sonntag hatte die Staatsgewalt XR schliesslich auf Marble Arch zurückgedrängt. [12] Dort wurde dann am Dienstag in einer „Rebellenversammlung“ entschieden, die Demonstration am Donnerstag Nachmittag zu beenden. Dabei war es XR wichtig zu betonen, dass der Rückzug „unter eigenen Bedingungen“ erfolgte und nicht vom Staat erzwungen werden konnte. [13]
Die „Aufständischen“ können mit ihrem bisherigen Erfolg allerdings auch zufrieden sein. Die Briten haben zwei Wochen lang nicht über den Brexit sondern übers Klima diskutiert. Die mediale Aufmerksamkeit war riesig. Das hat XR weiteren Zulauf gebracht. Das Kernteam besteht nun aus rund 100 Voll- und Teilzeitkräften. Ausserdem sind mittlerweile über 100.000 Menschen als „Rebellen“ registriert und es gibt weltweit knapp 400 XR-Ortsgruppen von Pakistan über Ghana bis Chile. In einer anderthalb stündigen Debatte im britischen Unterhaus sprachen sich die ersten Parlamentarier für die Ausrufung eines Klimanotstands aus und der frühere Parteichef der Konservativen William Hague schrieb in einem Leitartikel: „Die Lösungen, die von den Demonstranten und den grünen Parteien rund um die Welt vorgeschlagen werden, mögen wenig durchdacht sein. Aber der Analyse ist schwer zu widersprechen.“ [14] Zudem deuten sich erste Verhandlungen an: Der britische Umweltminister Michael Gove hat angeboten, XR-Vertreter zu treffen und das XR-Strategieteam berichtet von “lebhaften Kontakten über inoffizielle Kanäle“.
Trotz des momentanen Rückzugs der „Aufständischen“ sollte die britische Regierung aber nicht dem klimapolitischen Müssiggang verfallen. Eine Journalistin, die die XR-Büros besuchte, sah dort einen Flipchart mit möglichen Eskalationsstrategien. Eine Punkt war: „Massenhafter Hungerstreik?“ [15] Und Gail Bradbook, eine XR-Mitbegründerin, sagte ihr. „Das ist eine Rebellion. Es ist OK, wenn die Leute ein bisschen Spass haben wollen und ein bisschen tanzen, aber das ist keine Party. Wir wollen eine politische Krise erzeugen.“ mic
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[1] XR, 31.10.2018: Declaration of Rebellion
[2] Guardian, 17.11.2018: Dozens arrested after climate protest blocks five London bridges
[3] BBC, 10.04.2019: Victoria Derbyshire – Extinction Rebellion (Video)
[4] XR, 05.04.2019: Why International Rebellion (Video)
[5] Pnas, 18.08.2018: Trajectories of the Earth System in the Anthropocene
[6] Guardian, 06.11.2018: Stop biodiversity loss or we could face our own extinction, warns UN
[7] Guardian, 07.11.2009: ‘Civil disobedience has a role to play’
[8] XR, 08.04.2019: Why Public Disruption is Necessary (Video)
[11] XR, 11.03.2019: Spring is Coming (Video)
[12] XR, 22.04.2019: Update #6 – A New Phase Begins
[13] XR, 25.04.2019: Update #7 – To Parliament, and Beyond
[15] Daily Mail, 20.04.2019: Hugs tears and three types of soya milk!