Netto-null Emissionen werden nicht reichen

Das 1,5-Grad-Ziel wird wohl nur durch negative Emissionen erreichbar sein

Die Klimaerwärmung wird wahrscheinlich 1,5 Grad überschießen. Durch die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre ließe sich die Temperatur anschließend wieder absenken. Doch was physikalisch machbar ist, könnte politisch unmöglich sein.

Letztes Jahr war die Durchschnittstemperatur auf der Welt 1,48 Grad höher als vor Beginn der industriellen Revolution. Das lag auch am Wetterphänomen El Niño. Aber auch ohne El Niño wird die Klimaerwärmung in absehbarer Zeit ähnliche Werte erreichen und wahrscheinlich auch das 1,5-Grad-Ziel des Paris Abkommens übersteigen. Gemäß dem Weltklimarat (IPCC) ist es immer noch möglich, die Erwärmung bis zum Jahr 2100 auf 1,5 Grad zu begrenzen. Doch fast alle Emissionspfade, die dies ermöglichen, gehen zwischendurch von einem „Überschießen“ (englisch „overshoot“) dieses Ziels aus. Zeitweise wäre die CO2-Konzentration in der Atmosphäre für 1,5 Grad also zu hoch und müsste dann durch die Entnahme von CO2 wieder reduziert werden. Für letzteres gibt es verschiedene Methoden, vom Aufforsten bis zum Herausfiltern von CO2 aus der Luft. Doch alle diese Methoden kosten Geld.

Das aktuelle Klimaziel der meisten Länder von netto-null Emissionen ist daher nicht die eigentliche Ziellinie, sondern nur ein Zwischenziel, wenn sie es mit 1,5 Grad ernst meinen. Denn im Fall des Überschießens müssen erst netto-null und dann negative Emissionen erreicht werden. Das zwinge der Menschheit „eine unangenehme Debatte“ auf, schreibt eine neue Studie. [1] Denn negative Emissionen bedürfen einer gesellschaftlichen Entscheidung. Gesellschaften müssen sich darauf einigen, dass eine Erwärmung von mehr als 1,5 Grad unerwünscht ist, und dann die erforderlichen Maßnahmen ergreifen. Noch fehle dafür aber die wissenschaftliche Grundlage. Damit sich die Menschen nicht einfach mit dem Überschießen des 1,5-Grad-Ziels abfinden, müssten die Klimawissenschaften zeigen, „welche Folgen und Risiken durch einen Temperaturrückgang vermieden würden“ im Vergleich zu einem Verbleib auf dem einmal erreichten Niveau.

Protest programmiert. Sobald erhebliche Mittel für die CO2-Entnahme bereitgestellt werden müssen, gibt es Verteilungskonflikte. (Foto: Axel Hindemith / Wikipedia)
Protest programmiert. Sobald erhebliche Mittel für die CO2-Entnahme bereitgestellt werden müssen, gibt es Verteilungskonflikte. (Foto: Axel Hindemith / Wikipedia)

Die Klimawissenschaften müssen also klar zeigen, welche Vorteile ein Absenken der Temperatur bringt, um den Aufwand zu rechtfertigen. Um die Erwärmung um 0,1 Grad zu reduzieren, müssen der Atmosphäre 200 Milliarden Tonnen CO2 entzogen werden. Das entspricht den aktuellen CO2-Emissionen von fünf Jahren. Das klingt auf den ersten Blick machbar, da die CO2-Entnahme ja über einen längeren Zeitraum erfolgen kann. Hinzu kommt allerdings die CO2-Entnahme, die erforderlich ist, um die Restemissionen auszugleichen, denn „netto-null“ bedeutet ja, dass es noch Emissionen gibt, die durch CO2-Entnahme kompensiert werden. Außerdem müssen die Emissionen von anderen Treibhausgasen wie Methan oder Lachgas ebenfalls durch CO2-Entnahmen ausgeglichen werden. Die Menschheit muss also schon für netto-null Emissionen der Atmosphäre erhebliche Mengen an CO2 entziehen und müsste das für negative Emissionen in einem noch sehr viel größeren Umfang tun.

Die Kosten für die CO2-Entnahme zur Kompensation der Restemissionen lassen sich – zumindest theoretisch – auf die Verursacher der Restemissionen abwälzen. Anders sieht das bei den Kosten für die Erreichung von negativen Emissionen aus: Das erfordere „unweigerlich öffentliche Gelder“. Um nach einem Überschießen des 1,5-Grad-Ziels die Temperatur wieder abzusenken, müssen also Steuermittel bereitgestellt werden. Und da könnte schließlich der Knackpunkt liegen: Denn selbst wenn alle technischen und ökologischen Probleme für eine CO2-Entnahme im großen Stil gelöst werden können, „sind die Herausforderungen für die wirtschaftliche und politische Durchführbarkeit beträchtlich, nicht zuletzt wegen der grundlegenden Verteilungskonflikte“. Anschaulich machen das die aktuellen Proteste der Bauern. Diese leisten massiven Widerstand gegen die Abschaffung einer relativ geringfügigen Subvention. Welcher Politiker traut sich da, einen substanziellen Teil des Haushalts für CO2-Entnahmen zur Verfügung zu stellen?

Noch schwieriger könnte es auf internationaler Ebene werden, denn Investitionen in die CO2-Entnahme nutzen allen Ländern und nicht nur dem Land, das dieses Geld investiert. “Es ist daher denkbar, dass es bei der UN-Klimakonferenz im Jahr 2050 um die Frage geht: Wer macht wie viel CO-Entnahme und wer bezahlt dafür?”, sagt Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik und einer der beiden Autoren der Studie. Dabei werden manche Länder argumentieren, dass sie mit dem aktuellen Temperaturniveau zufrieden sind und gar keine CO2-Entnahme wollen. Länder mit wenig historischen Emissionen werden fordern, dass die Industriestaaten und China ihre „CO2-Schulden“ abtragen, indem sie die CO2-Entnahme finanzieren. Was in den Emissionspfaden des IPCC so einfach aussieht, könnte sich daher als nahezu unmöglich herausstellen: Rein physikalisch kann die Menschheit die Klimaerwärmung nach einem Überschießen des 1,5-Grad-Ziels zwar wieder reduzieren, aber ob sie dazu als Gesellschaft auch in der Lage ist, ist nicht sicher. Daher sollte sie alles tun, um ein Überschießen zu vermeiden oder zumindest so gut wie irgend möglich zu begrenzen.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Dann abonnieren Sie doch weltinnenpolitik.net per RSS

 

[1] OneEarth, 01.12.2023: Temporary overshoot: Origins, prospects, and a long path ahead