Die Welt steht kurz vor dem Kipppunkt

Der Schutz des Klimas könnte sich sprunghaft beschleunigen

Menschen rechnen nicht mit sprunghaften Veränderungen. Dabei gibt es diese. Anfangs waren Mobiltelefone teuer und waren ein Statussymbol. Doch dann erreichte deren Verbreitung einen Kipppunkt und plötzlich besaß jeder eins. Dieses Phänomen lässt sich auch fürs Klima nutzen.

Die Lage scheint hoffnungslos: Um die Klimaerwärmung bei 1,5 Grad zu stoppen, müssen die Emissionen in den nächsten zehn Jahren halbiert werden – die globalen Emissionen. Mit Ausnahme des Coronajahrs 2020 sind die Emissionen bislang aber Jahr für Jahr gestiegen. Der Grund dafür ist einfach: Die Weltbevölkerung wächst und wird immer wohlhabender. Daher verbraucht sie immer mehr Energie und andere Ressourcen. Mittlerweile steigen die Emissionen zwar nicht mehr parallel mit der Wirtschaftsleistung sondern haben sich entkoppelt. Für einen Rückgang der Emissionen reichte das aber nicht und mit den bestehenden Maßnahmen zum Klimaschutz steuert die Welt gemäß Climate Action Tracker auf 2,7 Grad Erwärmung zu. [1] Dadurch könnte das Klimasystem Kipppunkte erreichen, nach denen sich die Erwärmung selbst verstärkt.

Selbstreferentiell. Der Urwald in Brasilien existiert, weil er existiert. (Foto: Kunal Shilde / Unsplash)

An diesen Punkten braucht es nur einen geringen Anstoß, um eine nicht-lineare Veränderung auszulösen. Wissenschaftler gehen etwa davon aus, dass ab einem gewissen Punkt der Zerstörung des Amazonas Urwalds, dieser die Fähigkeit verliert, sein eigenes Wetter zu machen. Dann wird der Regenwald zur Steppe. Er wechselt von einem stabilen Zustand (Wald) zu einem neuen Zustand (Graslandschaft). Wo genau der Punkt liegt, lässt sich kaum vorhersagen, aber dass es ihn gibt, gilt als sicher. Solche Kipppunkte gibt es allerdings nicht nur im Klimasystem des Planeten Erde sondern auch in anderen komplexen Systemen wie der technologischen Entwicklung und der menschlichen Gesellschaft. Und genau diese gilt es zu nutzen, sagt Tim Lenton von der britischen Universität Exeter: „Wenn wir die schlechten Kipppunkte vermeiden wollen, müssen wir die guten, die sozialen Kipppunkte auslösen.“ [2]

Von den „guten Kipppunkten“ gibt es mehrere, die in ein, zwei Jahren erreicht werden könnten. So ist der Preis für Batterien seit dem Jahr 2010 von 1200 Dollar pro Kilowattstunde (kWh) auf 132 gefallen. Damit ist ein erster Kipppunkt in Griffweite. Der Thinktank BloombergNEF geht davon aus, dass ab einem Preis von 100 Dollar Elektroautos auch in der Anschaffung billiger sind als Verbrenner. [3] Spätestens dann verstärkt sich die Verbreitung von Elektroautos von selbst: Weil immer mehr davon verkauft werden, wird der Preisvorteil gegenüber Verbrennern immer grösser. Und genau dieser Punkt steht kurz bevor: BloombergNEF erwartet, dass der Preis für Batterien im Jahr 2024 unter die entscheidende 100-Dollar-Marke fällt. Und dann kann es sehr, sehr schnell gehen, wie die Verkehrsgeschichte zeigt: Im Jahr 1900 gab es in New York nahezu ausschließlich Pferdefuhrwerke und keine Autos. Nur 13 später war die Situation genau umgekehrt: Wer noch eine Pferdekutsche fuhr, war ein Exot (siehe Fotos).

Und tschüs. Nachdem das Pferd jahrtausendelang dem Menschen dienlich war, verschwand es in nur zwölf Jahren von den Strassen. (Fotos: Diverse)

Auch an den Finanzmärkten könnte demnächst ein Kipppunkt erreicht werden, bei der Finanzierung von Kohle, Öl und Gas: „Wenn etwa neun Prozent der Anleger ihr Geld abziehen, wird der Rest nachziehen, weil er Angst hat, Geld zu verlieren“, sagt Ilona Otto von der Universität Graz. [2] Dass dieser Punkt nicht mehr weit ist, zeigen Zahlen der Investmentbank Goldman Sachs. Um Kapital für die Erschließung eines neuen Ölfelds zu bekommen, ist eine Rendite von 20 Prozent erforderlich. Bei Solar- und Windkraftprojekten reichen hingegen drei bis fünf Prozent. „Das ist ein außerordentlicher Unterschied, der zu einer noch nie dagewesenen Verschiebung der Kapitalallokation führt”, sagt Michele Della Vigna von Goldman Sachs. [4] “Dieses Jahr wird das erste in der Geschichte sein, in dem erneuerbare Energien den größten Teil der Energieinvestitionen ausmachen.” Und das dürfte nicht das Ende sein, meint Otto: „Wir werden an den Punkt gelangen, an dem die Nutzung fossiler Brennstoffe genauso undenkbar ist wie die Beschäftigung von Sklaven.” [2]

Es gibt aber nicht nur technische und wirtschaftliche Kipppunkte sondern auch soziale. Das zeigt das Beispiel der Schwulenehe. Im Jahr 2001 legalisierten die Niederlande als erste gleichgeschlechtliche Partnerschaften. In den nächsten zehn Jahren zogen dann ein paar andere Länder nach. Rund um das Jahr 2011 war dann der Kipppunkt erreicht und Dutzende Länder und Bundesstaaten führten gleichgeschlechtliche Ehen ein. Was lange als undenkbar galt, war in kurzer Zeit normal geworden. Einen ähnlichen Kipppunkt stellt das Paris Abkommen aus dem Jahr 2015 dar. Dieses stellt fest, dass die Emissionen auf netto-null sinken müssen – ein Ziel, dass damals kaum ein Land anstrebte. Mittlerweile ist ein solches Ziel die Norm: Länder die für 88 Prozent der globalen Emissionen verantwortlich sind, wollen diese auf netto-null reduzieren, wie der Net Zero Tracker zeigt. [9] Nigel Topping, der „Climate Champion“ der britischen Regierung, sagte dazu letztes Jahr: „Die letzten fünf Jahre haben gezeigt, dass die Wende zu einer Netto-Null-Wirtschaft exponentieller Natur ist.“ [5]

Kaskade. Wie am Schnürchen erreicht eine Technologie nach der anderen den Kipppunkt zum Massenmarkt. (Grafik: Systemiq)

Und genau dieses Tempo ist jetzt erforderlich, wenn eine Klimakatastrophe noch verhindert werden soll. Dazu brauche es eine „dramatische Beschleunigung des Fortschritts“, sagt Lenton, der eine Studie über Kipppunktkaskaden geschrieben hat. [6] Darin zeigt er am Beispiel von Elektroautos und Grünstrom, dass „es plausible Gründe für die Hoffnung gibt, dass Kipppunkte aktiviert werden können“. Auch wenn man nicht genau weiß, wo ein solcher Punkt liegt, kann man also darauf hinarbeiten. Und zumindest für die technologischen Kipppunkte hat der Thinktank Systemiq schon eine Reihenfolge ermittelt, ab denen Technologien vom Nischenmarkt in den Massenmarkt wechseln: Beim Grünstrom ist das schon passiert und bei Elektroautos (2024), Gebäudeheizung (2025), Lastwagen (2027) sowie Stahl, Zement und Chemikalien (alle 2030) steht der Kipppunkt kurz bevor. [7] Mittlerweile gibt es in den Niederlanden auch eine Initiative, die gezielt auf diese Wendepunkte hinarbeitet. Die „Soziale Kipppunkt Koalition“ will, dass die Regierung eine Strategie vorlegt, wie die Erreichung dieser Punkte beschleunigt werden kann. [8] „Für ein schrittweises Vorgehen gegen den Klimawandel ist es zu spät“, sagt Lenton. [6] Da trifft es sich gut, dass es auch soziale Kipppunkte gibt. mic

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[1] CAT, Stand 01.12.2021: The CAT Thermometer

[2] Phys, 02.03.2021: Social tipping points: slouching toward climate salvation

[3] BloombergNEF, 30.11.2021: Battery Pack Prices Fall to an Average of $132/kWh, But Rising Commodity Prices Start to Bite

[4] Bloomberg, 09.11.2021: Cost of Capital Spikes for Fossil-Fuel Producers

[5] Systemiq, Dezember 2020: The Paris Effect – How the Climate Agreement is Reshaping the Global Economy (PDF)

[6] Simon Sharpe, Timothy Lenton, 10.01.2021: Upward-scaling tipping cascades to meet climate goals: plausible grounds for hope

[7] Systemiq, 05.11.2021: The Paris Effect – COP26 Edition

[8] Social Tipping Point Coalition, 24.05.2021: Offener Brief

[9] Net Zero Tracker, Stand 01.12.2021: Net Zero Tracker