Deutschland überzieht sein CO2-Budget immer noch

Die neuen Klimaziele bringen Deutschland näher an einen Paris-kompatiblen Emissionspfad

Es scheint als markiere das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts einen sozialen Kipppunkt. Plötzlich sind Klimaziele möglich, die noch vor Wochen undenkbar waren etwa Klimaneutralität bis 2045.

Deutschland wird gerade von schweren politischen Erdbeben erschüttert. Das erste war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Klimapolitik letzte Woche. Und gestern gab es ein schweres Nachbeben: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat beim Petersberger Klimatreffen angekündigt, dass Deutschland seine Klimaziele verschärft: Statt um 55 Prozent gegenüber 1990 sollen die Emissionen bis 2030 um 65 Prozent sinken. Außerdem soll Deutschland schon 2045 und nicht erst 2050 klimaneutral wirtschaften.

Natürliche Erdbeben entstehen, wenn sich Spannungen zwischen tektonischen Platten aufbauen und diese sich dann ruckartig verschieben. Und politische Erdbeben geschehen, wenn die Widersprüche zwischen der aktuellen Politik und der Wirklichkeit so groß werden, dass sie untragbar sind. Genau darauf sind das Urteil und die plötzliche, ruckartige Verbesserung des deutschen Klimaziels zurückzuführen. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass sich mit der bisherigen Klimapolitik die Ziele des Paris Abkommens nicht erreichen lassen, außer die Menschen würden ab 2030 eine „radikale Reduktionslast“ erbringen. [1]

Im Paris Abkommen hat sich Deutschland dazu verpflichtet die Klimaerwärmung „deutlich unter zwei Grad“ zu stoppen und „Anstrengungen zu unternehmen“, dass dies schon bei 1,5 Grad gelingt. Ob die deutsche Klimapolitik diesem „verfassungsrechtlich maßgeblichen Temperaturziel“ genügt, lasse sich aber nicht direkt überprüfen so das Bundesverfassungsgericht. „Um dieses als Maßgabe für die Begrenzung von CO2-Emissionen anwenden zu können, ist eine Übersetzung der Temperaturmaßgabe in eine Emissionsmaßgabe erforderlich.“ Oder anders: Die Klimapolitik muss auf einem deutschen CO2-Budget beruhen. [2 s. Randnummer 215]

Petersberg. Normalerweise findet die Konferenz im Gästehaus der Bundesregierung bei Köln statt. Dieses Jahr ist das Treffen virtuell – mit erstaunlichen technischen Schwierigkeiten. (Foto: Tohma / Wikipedia)

Wie hoch dieses ist hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) der Bundesregierung letztes Jahr ausgerechnet. Der Weltklimarat IPCC hat das Gesamtbudget für die ganze Welt bestimmt, wenn die Erwärmung mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln bei 1,75 Grad gestoppt werden soll. Dieses Budget verteilt der SRU auf die Länder gemäß deren Anteil an der Weltbevölkerung am 1. Januar 2016, also wenige Tage nach Abschluss des Paris Abkommens. Damit steht Deutschland ein Anteil von 1,1 Prozent am globalen CO2-Budget zu. Davon waren am 1. Januar letzten Jahres noch 6,7 Milliarden Tonnen übrig. [3]

Mit der herkömmlichen Klimapolitik hätte Deutschland bis 2050 aber 12,8 Milliarden Tonnen an Treibhausgasen produziert, zum größten Teil CO2. [4] Damit zeigt die „Übersetzung“ des Temperaturziels in ein CO2-Budget, dass Deutschlands Klimapolitik dem „verfassungsrechtlich maßgeblichen Temperaturziel“ offensichtlich nicht genügt. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts war nun allen klar, dass der Widerspruch zwischen Politik und Wirklichkeit nicht länger tragbar ist und Politiker aus allen Parteien begrüßten das „epochale“ Urteil (Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier). In Anbetracht des Wahlkampfs muss nun Alles sehr schnell gehen: In wenigen Tagen soll ein neues Klimaziel vereinbart werden.

Der Ökonom Milton Friedman hat einmal gesagt: “Nur eine Krise – tatsächlich oder gefühlt – erzeugt echten Wandel. Wenn diese Krise eintritt, hängen die Maßnahmen, die ergriffen werden, von den Ideen ab, die herumliegen.” Und genau diese Idee hat der Thinktank Agora Energiewende geliefert. Wenige Tage nach dem Urteil hat er „Eckpunkte“ für ein neues Klimagesetz vorgelegt, die zeigen, wie Deutschland schon im Jahr 2045 klimaneutral werden kann. Dazu müssen die Emissionen bis 2030 um 65 Prozent und bis 2040 um 90 Prozent sinken (siehe Grafik). Und fast genau diese Zahlen greifen die Politiker nun auf. Agora Energiewende hat es geschafft, das vielleicht wichtigste Papier zur deutschen Klimapolitik der letzten Jahre zu schreiben.

Der Plan: Netto-Null bis 2045 und dann negative Emissionen. (Grafik: Agora Energiewende)

Aber selbst der von Agora vorgeschlagene Emissionspfad kann nicht verhindern, dass Deutschland sein CO2-Budget überzieht. Mit dem Agora-Vorschlag kommt Deutschland auf Emissionen von 8,8 Milliarden Tonnen Treibhausgasen. Das sind immer noch rund zwei Milliarden Tonnen oder knapp ein Drittel zu viel. Möglicherweise würde das Bundesverfassungsgericht daher auch ein Klimagesetz, das auf dem Agora-Vorschlag beruht, für verfassungswidrig erklären. Deutschland muss folglich unbedingt, sein Budget vergrößern. Das könnte etwa über den Ausbau von CO2-Senken erfolgen. Doch das Potential ist hier begrenzt, schließlich lässt sich nicht das ganze Land in Wald verwandeln.

Damit bleibt nur die Möglichkeit anderen Ländern einen Teil ihres Budgets „abzukaufen“. Beim aktuellen CO2-Kurs im europäischen Emissionshandelssystem von 50 Euro pro Tonne, sind zwei Milliarden Tonnen rechnerisch 100 Milliarden Euro wert. Gestreckt über 25 Jahre sind das rund vier Milliarden Euro pro Jahr. Genau so viel Geld investiert Deutschland heute bereits in Klimahilfen für ärmere Länder, damit diese ihre Emissionen senken und sich an die Erwärmung anpassen können. [5] Wenn Deutschland also ärmeren Ländern einen Teil ihres Budgets „abkaufen“ will, müsste es seine Klimafinanzierung verdoppeln. Viele haben erwartet, dass Merkel das beim Petersberger Klimatreffen ankündigen würde. Doch das hat sie nicht getan. Selbst wenn der Agora-Vorschlag tatsächlich Gesetz wird, wäre Deutschland in diesem Rechenbeispiel also noch immer nicht auf einem Emissionspfad der mit einer Erwärmung von 1,75 Grad kompatibel ist.

Doch gibt es überhaupt Länder denen man einen Teil ihres Budgets abkaufen kann? Die kurze Antwort auf diese Frage lautet: Nein. Der Grund dafür ist allerdings technischer Natur. Noch haben die Länder die Bedienungsanleitung für das Paris Abkommen nicht fertig ausgehandelt. Es fehlt just das Kapitel zum Handel mit CO2-Zertifikaten. Folglich kann kein Land Emissionsrechte kaufen oder verkaufen. Praktisch sieht die Sache aber anders aus. Viele arme Länder könnten ihre aktuellen Emissionen noch für mehrere hundert Jahre beibehalten, ohne ihr Budget zu überziehen. Patrick Graichen der Chef von Agora Energiewende schlägt daher vor, dass Deutschland diesen Ländern dabei hilft, die fossile Entwicklungsstufe zu überspringen und gleich auf Wind und Sonne zu setzen. [6] Damit würde ein Teil des Budgets dieser Länder „frei“.

So bleibt nur noch die Frage nach dem 1,5-Grad-Ziel. Deutschland hat schließlich versprochen „Anstrengungen zu unternehmen“, die Erwärmung bei dieser Marke zu stoppen. Wenn dieses Ziel mit Münzwurfwahrscheinlichkeit erfüllt werden soll, betrüge das deutsche Budget allerdings nur 4,2 Milliarden Tonnen wie der SRU ausgerechnet hat. [3] Wenn Deutschland seine Klimapolitik an einem Budget von 6,7 Milliarden Tonnen ausrichtet, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Erwärmung um mehr als 1,5 Grad steigt deutlich über 50 Prozent. Deutschland plant also das 1,5-Grad-Ziel zu verfehlen, was schwerlich als legitime „Anstrengung“ interpretiert werden kann. Trotz der klimapolitischen Erdbeben der letzten zwei Wochen ist Deutschland also noch nicht am Ziel und die neue Bundesregierung wird nach der Wahl noch eine Schippe drauflegen müssen. mic

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[1] Bundesverfassungsgericht, 29.04.2021: Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz teilweise erfolgreich

[2] Bundesverfassungsgericht, 24.04.2021: Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021

[3] SRU, 14.05.2020: Für eine entschlossene Umweltpolitik in Deutschland und Europa (PDF)

[4] Agora Energiewende, 03.05.2021: Sechs Eckpunkte für eine Reform des Klimaschutzgesetzes (PDF)

[5] germanclimatefinance.de, 03.05.2021: Climate finance at the Petersberg Climate Dialogue: Litmus test for Germany’s continued solidarity with the Global South

[6] Die Zeit, 16.11.2020: Deutschland braucht ein Ministerium für Klimagerechtigkeit