Die Krise hat den Westen geschrumpft

Die entwickelten Länder machen nur noch gut 40 Prozent der Weltwirtschaft aus

Relative Zahlen sind immer gefährlich. Denn wenn sich alle Anteile auf 100 Prozent aufaddieren, dann ist des einen Gewinn des anderen Verlust – ein Nullsummenspiel. Die Weltwirtschaft ist kein solches Nullsummenspiel, wächst sie doch seit mehreren hundert Jahren fast kontinuierlich. Trotzdem lohnt sich ein Blick auf die Anteile der verschiedenen Länder, denn er zeigt erstaunliche Verschiebungen von deren wirtschaftlicher Bedeutung.

In den ersten 1800 Jahren unserer Zeitrechnung hing der Anteil einzelner Länder am Welt Bruttoinlandprodukt BIP in erster Linie von der Grösse der Bevölkerung ab. Doch dann kam die industrielle Revolution und brachte eine Verzehnfachung der Arbeitsproduktivität in Europa und den USA. In der Folge wuchs der Anteil des „Westens“ an der Weltwirtschaft unablässig und die grossen Länder Asiens verkamen zur wirtschaftlichen quantité négligable. China hat 1962 mit einem Anteil von vier Prozent den Tiefpunkt erreicht und Indien 1979 mit einem Anteil von gar nur drei Prozent. Die Bewohner der westlichen Industriestaaten hingegen konnten sich über einen Anteil von rund 60 Prozent freuen, obwohl nur rund 20 Prozent der Menschheit im Westen zu Hause war.

Doch der Rest der Welt holt nun wieder auf und damit schrumpft der Anteil des Westens. Insbesondere China hat die Lehren der industriellen Revolution verinnerlicht. Die „Werkbank der Welt“ hatte im Jahr 2008 wieder einen Anteil von 17,5 Prozent an der Weltwirtschaft. Gleichzeitig nahm der Anteil des Westens auf 44 Prozent ab (siehe Grafik). Diese Entwicklung ist dem globalen Trend geschuldet. Mit der Wirtschaftskrise ist der Westen aber noch weiter abgerutscht. Denn während die westlichen Industriestaaten scharfe Einbrüche zu verkraften hatten, ist die Wirtschaft in China auch letztes Jahr mit rund acht Prozent gewachsen. „Die Krise hat die Welt verändert“ sagt denn auch der Chefökonom der Welthandelsorganisation WTO Patrick Low. Und das hat auch sein Gutes: „Die deutschen Autohersteller erleben ein Sommermärchen“ schreibt die FAS. Der Grund: Die Nachfrage in den USA und vor allem China zieht an. Mittlerweile ist das vormals fürs Fahrradfahren bekannte Reich der Mitte der grösste Markt für die besonders teuren Modelle der Mercedes S Klasse. China zieht so die deutsche Exportindustrie aus dem Konjunktursumpf.

Anteile am Welt-BIP
Anteile an der Weltbevölkerung

 

 

Datenquelle: Angus Maddison, Grafik: mic

Ausserhalb der Exportindustrie hält sich die Begeisterung über die „veränderte Welt“ jedoch meist in Grenzen. Die Amerikaner fürchten den Tag, an dem die chinesische Wirtschaft grösser ist als die amerikanische. Und wegen der Krise kommt dieser Tag 14 Jahre früher als zuvor erwartet: Schon 2027 könnte es soweit sein, schätzt die US Investmentbank Goldman Sachs. Hinzu kommt das finanzielle „Gleichgewicht des Schreckens“ zwischen China und den USA. Würde Peking alle seine US Staatsanleihen gleichzeitig auf den Markt werfen, wären beide Länder ruiniert. Aber auch aus europäischer Sicht ist das Bild nicht rosig. Der Kontinent sieht sich mit einem „Bermudadreieck aus Schulden, schrumpfender Bevölkerung und niedrigen Wachstumsraten“ konfrontiert, schreibt der Economist. Nun rächt sich, dass sich die Menschen im Westen nicht mit ihrem weit überdurchschnittlichen Anteil am Welt-BIP zufrieden gegeben haben, sondern auf Pump noch mehr konsumiert haben.

Doch welche Implikationen hat eine derartige Verschiebung der wirtschaftlichen Macht? Aus Sicht des einzelnen Westbürgers sind die Folgen vorerst gering. Ihn interessiert das Pro-Kopf Einkommen und hier werden die westlichen Länder auf absehbare Zeit nicht einzuholen sein. Zudem steigt das Pro-Kopf Einkommen weiter an. Anders stellt sich die Entwicklung allerdings aus Sicht westlicher Strategen dar. Für sie ist die wirtschaftliche Bedeutung Teil der „Soft Power“ des Westens. Die Vorherrschaft in der Weltwirtschaft erlaubt es dem Westen seine Interessen aber auch seine Ideale zu fördern. Denn wir haben nicht nur Mickymaus und McDonalds sondern auch Menschenrechte und Demokratie im Angebot. Bislang verbanden alle erfolgreichen Länder Marktwirtschaft mit Demokratie. China scheint aber auch ohne Demokratie wirtschaftlich zu florieren und so besteht die Gefahr, dass sich andere Länder das „chinesische Modell“ zum Vorbild nehmen.

Doch noch ist es nicht so weit und es ist auch klar, was der Westen tun muss: Wachsen. Bei einer stagnierenden oder gar schrumpfenden Bevölkerung ist dies nur durch eine Steigerung der Produktivität möglich. McKinsey spricht denn auch vom „Produktivitätsimperativ“: „Die entwickelten Länder müssen nennenswerte Produktivitätssteigerungen erzielen, um weiter wachsen zu können.“ In Europa ist dies insbesondere durch eine Ausweitung des EU Binnenmarkts auf Dienstleistungen und Energie möglich. Zudem sind grössere Anstrengungen in Forschung und Bildung erforderlich. Ausserdem bestehen gute Chancen, dass das westliche Modell für immer mehr Menschen in den Schwellenländern attraktiv wird. Denn dank des wirtschaftlichen Erfolgs dieser Länder wächst deren Mittelklasse explosionsartig. Allein in den nächsten zehn Jahren werden eine Milliarde Menschen in die Mittelklasse aufsteigen, schätzt Goldman Sachs. Und damit werden sie nicht nur interessante Konsumenten für westliche Konsumgüter, sondern entwickeln meist auch ein grössere Wertschätzung für Rechtsstaatlichkeit und persönlichen Freiheiten. Die Weltwirtschaft ist eben kein Nullsummenspiel und auch wenn die relative Bedeutung des Westens abnimmt, ist es erfreulich, dass es immer mehr Menschen immer besser geht. mic

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